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Zu funktionsgesteuert?Darum sollten wir unsere emotionale Intelligenz stärken

Lesezeit 7 Minuten
Hände halten dpa

Sollten wir mehr Wert auf Respekt und Menschenliebe legen, sind wir in der heutigen zeit zu funktionsgesteuert? Viele Pädagogen beantworten diese Frage mit „Ja“.

Liebe und Zuneigung empfinden und weitergeben, eine Moral entwickeln, solidarisch, mitfühlend und sensibel sein, oder anders ausgedrückt: sein Herz bilden. Eine Aufgabe, die schwer zu greifen und doch so wichtig ist – vor allem in unserem immer schneller werdenden Leben. Zwischen Terminen hin- und her hetzen, Familie und Beruf unter einen Hut bekommen, schnell mit der Großmutter zum Arzt fahren – und zwischendurch auch noch hin und wieder mit Freunden ein Feierabend-Bier genießen: Wir haben viel zu organisieren. Funktion ist wichtig und bestimmend. Zugleich wird ein Eindruck immer stärker: Wird dem friedvollen Umgang miteinander noch genügend Aufmerksamkeit gewidmet? Geben die Menschen aufeinander acht, auch wenn sie nichts davon haben? Und wie könnte das überhaupt funktionieren, sein „Herz zu bilden“?

Konflikte mit Respekt beilegen

Seinem Kind liebevoll begegnen, ihm zeigen, wie vorsichtig Blumen gegossen und Pflanzen in die Erde gesetzt werden wollen; ihm beibringen, sich nach seinen Freunden zu erkundigen, erklären, wie man Konflikte mit Respekt und ohne Gewalt beilegen kann: All diese Schritte im Leben eines Kindes und im weiteren Verlauf des Erwachsenseins sind klein, fast unscheinbar, und doch so wichtig. Nur damit können wir in einer empfindsamen und sensibilisierten Umgebung leben. Und all das entwickelt unser Herz.

Das schöne Wort „Herzensbildung“ beschäftigt die Menschen schon lange und wirkt heute durchaus etwas angestaubt. Bereits in der Antike diskutierten Gelehrte diese besondere Art der Bildung, später sprach Friedrich Schiller von der „Bildung des Verstandes und des Herzens“ und Wilhelm von Humboldt von der „Bildung des Gemüths“. Dichter und Denker waren sich schon früh bewusst, dass nicht nur der Verstand geschärft, sondern auch das Herz gefüttert werden muss, damit der Mensch zu einem guten und sozialen Wesen heranwächst.

Auch der berühmte Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi verfolgte den Ansatz, „Kopf, Herz und Hand“ zu bilden. Erziehungswissenschaftler und Pädagogen beschäftigen sich mit den verschiedenen Methoden, wie man Kinder am besten ausbildet und auf die Welt vorbereitet. Erst kürzlich forderte auch der Dalai Lama, geistiges Oberhaupt der Tibeter und Friedensnobelpreisträger, mehr „Herzensbildung“, denn: Mit dem Verstand allein kämen wir nicht zur Vernunft. In einer Zeit, in der wir das Gefühl haben, dass sich die Gesellschaft spaltet, sich das Klima verändert und die Wirtschaft unser Leben beherrscht; in so einer Zeit müssten wir eines beachten: „Wenn wir voller Hass, Angst und Zweifel sind, bleibt die Tür zu unserem Herzen verschlossen“, so der Dalai Lama in einem Interview.

Auch wenn an dem Wort „Herzensbildung“ eine dickere Staubschicht zu haften scheint: Ohne sie kommen wir im Leben nicht weit, wir ecken an, schlingern, etwas geht verloren. Ein Teil unserer Bildung sollte daher stets das Herz betreffen, ist sich Christoph Wulf sicher. Der Erziehungswissenschaftler und Professor für Anthropologie und Erziehung arbeitet an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich schon lange mit dem Thema Herzensbildung. „Im Grunde geht es um Menschenliebe“, fasst der 74-Jährige den Begriff zusammen. „Das Herz ist eine Metapher dafür. Durch unser Herz fließt Blut und Lebenskraft.“ Herzensbildung sei ein uraltes Thema der Pädagogik, weshalb sich Wulf auch schon früh immer wieder damit befasst hat.

Heute ist statt „Herzensbildung“ immer öfter die Rede von „emotionaler Intelligenz“. Auch die „kulturelle Bildung“ spiele eine Rolle, sagt Wulf. So glauben Pädagogen, durch die Beschäftigung mit Kunst oder Literatur könnten sich die Emotionen eines Menschen besser bilden. Im Gegensatz zur viel kritisierten Pisa-Studie gehe es dabei eben nicht um Leistung, Noten und den Vergleich mit Mitschülern.

Auch im Miteinander liegt ein Schlüssel. So formulierte der französische Politiker und frühere Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors in einem Bildungsreport für die Unesco 1996 zum Beispiel den Vorsatz, wir müssten „lernen zusammenzuleben“. Dafür sei es wichtig, ein gegenseitiges Verständnis für unsere Geschichte, unsere Traditionen und die Werte zu entwickeln. Nur so könnten Konflikte friedlich gelöst werden. Eine Utopie, wie er es selbst nannte, aber eine Utopie, die nötig sei, um dem Kreis aus Zynismus und Resignation zu entkommen.

Von „Herzensbildung“ spreche eben kaum noch einer, aber das, was damit gemeint sei, „hat keineswegs an Bedeutung verloren“, ist Erziehungswissenschaftler Wulf überzeugt. „Der Mensch ist ein komplexes, soziales und politisches Wesen“, sagt Wulf. „Er hat moralische Ansprüche, die sich bilden müssen. Doch das kommt oft zu kurz.“ Menschenliebe zu erzeugen, brauche nämlich vor allem eines: Zeit und Aufmerksamkeit.

Schon im Kindesalter wird das Herz gebildet. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle, sagt Maria Elisabeth Schmidt. Die 55-Jährige beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit dem Thema Herzensbildung und bietet Elternkurse dazu an. „Für ein emotional gesundes Herz, brauchen wir vor allem eine gute Bindung“, sagt Schmidt, die bei dem kanadischen Entwicklungspsychologen Prof. Gordon Neufeld studiert hat und nun vom nordrhein-westfälischen Kaarst aus arbeitet. Für solch ein Herz müssen sich Menschen geborgen fühlen, sie brauchen mindestens eine gute Beziehung zu einer verantwortlichen, erwachsenen Person. „Meist sind das die Eltern, aber es kann auch eine Tante, ein Onkel oder eine Freundin sein“, so Schmidt. Bei dieser Person müssten wir uns uneingeschränkt geborgen fühlen und ihr vertrauen – egal ob im Kindes- oder später im Erwachsenenalter.

So eine Beziehung kann niemand erzwingen. Herzensbildung geschehe immer spontan, sagt Schmidt. „Wenn wir unser Kind anlächeln, ihm zuzwinkern, lächeln – all das ist emotionale Nahrung, die unser Herz nährt.“ Wenn dies in der Kindheit – aus verschiedenen Gründen – nicht geschieht, kann aber auch noch im Erwachsenenalter das Herz gebildet werden. „Das ist ein lebenslanger Prozess“, sagt Schmidt. Und wenn er gelinge, „können wir eine Vielfalt von liebenswerten Eigenschaften leben.“ Fürsorge, Stabilität und Integrität, Freundlichkeit, Courage, Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit, Treue, Verbindlichkeit, Selbstbeherrschung, Ausgeglichenheit, Widerstandsfähigkeit – alles Dinge, die uns als Menschen ausmachen, die aber Zeit brauchen, um sich zu entwickeln.

Entschleunigung fürs Herz

Reicht die Zeit noch, um unser Herz zu bilden? Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf will keine Pauschalantwort geben: „Es gibt natürlich auch heute viele Familien, die sich Zeit für ihre Kinder nehmen, die ihnen erlauben zu spielen, zu lernen, zu entdecken.“ Aber es gebe eben auch Eltern, die diesen Lern- und Abenteuerspielplatz Leben nicht bieten. Grundsätzlich sei der unbewusste Weg der Herzensbildung ein „Bedürfnis des Menschen“, ganz nach dem Motto: Wir alle wollen geliebt werden.

Doch wer kaum Liebe in seinem Leben erfahren hat, kann sie auch nicht weitergeben. Das kann durch Traumata der Fall sein, durch Vernachlässigung oder Krankheiten – oder eben durch zu wenig Zeit. Manchmal schafft auch der Druck zur Selbstoptimierung zu viel Stress.

„Unsere Beschleunigung ist eine ökonomische Sache“, sagt Wulf. „Damit wir uns aber entfalten können, fruchtbare Momente entstehen und dann erleben können – dafür brauchen wir Zeit. Wenn wir alles rationalisieren, dann besteht die Gefahr, dass die Dimensionen, die sich nicht funktionalisieren lassen, hinten runter fallen.“

Und eine Gesellschaft, die nur noch aus funktionierenden Maschinen ohne Mitgefühl, Humor und Freundlichkeit besteht, mag sich wohl niemand vorstellen. Aber auch wenn niemand gefeit ist vor Momenten der Ungeduld, des Neids oder der Schadenfreude – es geht um eine innere Einstellung uns und unseren Mitmenschen gegenüber oder wie es Christoph Wulf ausdrückt: „Liebe und tu’, was du für richtig hältst.“ÖFFNEN SIE IHR HERZ– WAS EXPERTEN RATEN

1 – Sich unabhängig vom Alter Freiräume zu gönnen und zu schaffen, um zur Ruhe kommen. Jeder kann selbst entscheiden, in welchen Momenten er diese Ruhe schaffen kann und wie er sie gestalten will. Dem einen hilft ein Spaziergang in der Natur, der andere liest lieber ein Buch oder schaut sich ein Fotoalbum an. Einige wollen in diesen Momenten einfach nur alleine sein, andere suchen die Nähe eines Menschen, bei dem sie sich angenommen und geliebt fühlen. 2 – Aus dieser Ruhe heraus kann der Mensch in einen „Spiel-Modus“ fallen. Auch Erwachsene brauchen Zeit, um sich auszutoben: sei es beim Kochen, Basteln oder bei einem entspannten, fröhlichen Dialog. In diesen Spielräumen können Menschen ihren Gedanken nachhängen – aber eben nicht den Gedanken, dass sie etwas tun oder ein Spiel gewinnen müssen. Im Spiel-Modus sollte der Mensch ohne einen Zweck sich mit einer Sache beschäftigen, die ihm Freude bereitet. Dieses Spiel sollte an einem Ort stattfinden, an dem er nichts leisten oder gar ein Ergebnis liefern muss.

3 – Einen Ort (oder: einen Menschen) aufzusuchen, an dem man sich verstanden fühlt, wo man sein Herz öffnen kann. Ein solcher Ort ist „wie Dünger für Herzensbildung“, sagt Psychologin Schmidt: Vertrauen haben in andere und sich selbst vertrauen. Auf diese Weise ist es auch möglich, anderen bei der Herzensbildung zu helfen: dem Gegenüber zuhören, ihm helfen zur Ruhe zu kommen, ihm Zeit schenken, ihm eine vergnügliche Zeit bereiten.