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Interview mit neuem Leiter des NS-Dok in Köln„Judenfeindschaft hat zugenommen“

Lesezeit 5 Minuten
Köln, RSK, Dr Henning Borggräfe, Leiter des NS Dok

Hat eine der „interessantesten Stellen“ Deutschlands: Henning Borggräfe. 

Digitalisierung, die Polarisierung der Gesellschaft und aufflammender Antisemitismus sind die Herausforderung des NS-Dokumentationszentrums Köln. Ingo Schmitz sprach mit dem neuen Leiter Dr. Henning Borggräfe.

Warum haben Sie sich um die Leitung des NS-Dok beworben?

Es ist eine der interessantesten Stellen, die es in Deutschland im Bereich von Gedenkstätten und Dokumentationszentren gibt. Das hat nicht zuletzt seinen Grund in der Konzeption des Hauses, in der Verbindung von Geschichtsaufarbeitung und Gegenwartsanspruch. Auch macht es einen erheblichen Unterschied, ob ein solches Haus in einer Großstadt, mitten in Köln steht oder eher im ländlichen Raum, wie viele KZ-Gedenkstätten. Alles in allem bietet dieses Profil spannende Möglichkeiten.

Kaum wurde bekannt, dass mit Ihnen diese Stelle besetzt werden wird, war ihr Vorgänger Werner Jung voll des Lobes ob der Wahl. Ein Strauß von Vorschusslorbeeren. Nun die Gelegenheit, davon etwas zurück zu geben: Wie finden Sie das NS-Dok vor?

Es hat hier eine sehr beeindruckende Aufbau- und Etablierungsarbeit gegeben. In seinen Anfängen stand das Projekt gegen das Establishment. Bei der Verabschiedung von Werner Jung in der Synagoge gab es eine große Anteilnahme von Stadtspitze, Politik und Stadtgesellschaft. Mein Vorgänger übergibt mir ein Haus, das wir demnächst erstmals über alle fünf Etagen nutzen können, mit einem Kreis sehr motivierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nehmen Sie allein die Schriftenreihen. Bei mir im Büro steht ein Schrank, wenn ich den öffne, stehen dort rund 25 Bände des NS-Dok. Das ist schon eine beeindruckende Leistung.

Und dennoch ist es ein Haus im Umbruch.

Ja, das hängt natürlich ganz wesentlich mit dem Ende der Zeitzeugenschaft und mit dem digitalen Wandel zusammen. Dazu kommt die sich verschärfende Polarisierung der Gesellschaft mit den besonderen Herausforderungen von rechts. Das ganze vor dem Hintergrund der Eröffnung neuer Räume auf der dritten und vierten Etage des NS-Dok.

Sie sprechen das Problem an, dass die Generation der Zeitzeugen an ihrem Lebensende steht. Gerade die Berichte der Überlebenden wirken sehr eindrücklich auf junge Menschen. Wie kann das kompensiert werden?

Das ist eine der großen Herausforderungen. Wir können die Zeitzeugen sicherlich nicht einfach durch ein Ersatzangebot kompensieren, das dann genauso wirkt. Ein riesiger Fundus, den wir im Haus haben, sind die Zeitzeugeninterviews aus über 30 Jahren. Es wird sicherlich einer unserer künftigen Schwerpunkte sein, wie wir diese Interviews zugänglich machen und noch mehr in Bildungsangebote integrieren können. Ein weiterer Schwerpunkt – gerade im Hinblick auf die notwendige Erneuerung unserer Dauerausstellung – wie wir mit den Zeitdokumenten umgehen. Wie können wir aus ihnen Geschichten entwickeln?

Dr. Henning Borggräfe steht im Foyer des NS-Dok in Köln

Dr. Henning Borggräfe ist der neue Leiter des NS-Dok – Er übernimmt ein Haus im Umbruch

Warum erleben wir zurzeit ein Erstarken des radikalen nationalistischen Denkens und mit ihm des Antisemitismus?

Ich bin mir gar nicht so sicher, dass der Antisemitismus vor 10, 15 Jahren geringer war, oder ob wir einfach nicht gründlich genug hingeschaut haben. Nichtsdestotrotz hat die öffentlich sichtbare Judenfeindschaft in jüngster Zeit zugenommen. Das hängt stark mit der Polarisierung der Gesellschaft wie beispielsweise durch Verschwörungstheorien im Zuge der Corona-Pandemie zusammen. Wollen wir Formen von Menschenverachtung entgegenarbeiten, reicht es nicht, der Neonaziszene, die Menschen auf der Straße angreift, entgegenzutreten. Wir müssen uns bewusst machen, dass diese Phänomene in unserer Gesellschaft viel weiter verbreitet sind.

Ihre Zielgruppe sind vor allem die jungen Generationen, allen voran Schülerinnen und Schüler. Die erreichen Sie nicht zuletzt digital. Wie sieht da ihr Konzept aus?

Eine wichtige Gruppe werden immer die Schülerinnen und Schüler sein, all die Menschen, die unser Haus besuchen. Aber wir wollen und wir müssen mehr Menschen online erreichen. Wir werden mehr auf digitale Angebote setzen, wollen auch in den Sozialen Medien noch aktiver werden. Das dürfen wir aber nicht als Einbahnstraße begreifen. Im Sinne von: Das NS-Dok sendet eine Botschaft. Es geht auch im Digitalen darum, Dialoge zu führen, um Partizipation und Interaktion.

Das Ende der Zeitzeugenschaft ist eine große Herausforderung. Wir können die Zeitzeugen sicherlich nicht einfach durch ein Ersatzangebot kompensieren.
Dr. Henning Borggräfe, Leiter des NS-Dok

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?

Ein Projekt, an das ich dabei denke, wäre ein digitales Erinnerungsportal, das an verfolgte Kölnerinnen und Kölner erinnert. Im besten Falle würden darüber Kölner Schülerinnen und Schüler mit Enkeln von Holocaust-Überlebenden in Israel, den USA oder Australien in Kontakt treten und gemeinsam an den vielen Verfolgungsgeschichten aus Köln arbeiten. Solche Plattformen mit gebündelten Kräften aufzubauen, das habe ich mir zur Aufgabe gemacht.

Für gebündelte Kräfte braucht es Ressourcen. Hat das NS-Dok davon ausreichend?

Sie werden keinen Museumsdirektor finden, der sagt, ich habe ausreichend Ressourcen, ich brauche nicht mehr Geld (lacht). Aber im Vergleich zu anderen Gedenkstätten ist unsere Ausstattung tatsächlich gut. Ich bin zudem auch sehr froh darüber, dass wir vom städtischen Museumsdienst entlastet werden. Nichtsdestotrotz werden wir angesichts großer Herausforderungen mehr Ressourcen brauchen.

Ein klassisches Museum kann seinen Erfolg an den Besucherzahlen messen. Nicht so das NS-Dok. Welches Erfolgsziel setzen Sie sich?

Um den Erfolg unserer Arbeit zu messen, reichen quantitative Indikatoren alleine nicht aus. Es geht auch darum qualitativ zu ermitteln, was unsere verschiedenen Angebote bewirken. Was ich mir wünsche: Dass der Besucher sagt, ich habe in diesem Haus etwas Neues gelernt, das wird mich noch weiter beschäftigen.


Zur Person

40 Jahre ist Dr. Henning Borggräfe. wurde erst einer größeren Öffentlichkeit bekannt, dass sich im Keller EL-De Hauses die ehemaligen Gestapo-Zellen mit ihren Inschriften befinden.

Auslöser waren Fotografien aus dem Zellentrakt, die der politisch engagierte Lehrer Kurt Holl und der Fotograf Gernot Huber in einer Nacht- und Nebelaktion machten. Die Zellen wurden restauriert. 1987 beschloss der Stadtrat die Einrichtung eines NS-Dokumentationszentrums.

2019 wurde mit über 97 000 Besuchern ein Rekord erreicht. Der Neubesetzung der Direktorenstelle ging eine lange Vakanz voraus. Im November 2021 ging der ehemalige Leiter Werner Jung in den Ruhestand. Weil die Stadtverwaltung die Ausschreibung nicht direkt vorantrieb und im Hinblick auf weitere frei werdende Leitungsstellen kam die Sorge auf, es werde von Seiten der Stadt über eine Generaldirektion für die Kölner historischen Museen nachgedacht.

Protest aus den Reihen der bürgerlichen Parteien im Stadtrat wurde laut. Stadtspitze und Kulturdezernat dementierten, es ginge ihnen um eine Neustrukturierung dementierte und schrieb die Direktorenstelle schließlich aus. (ngo)