Mit Stadttouren zu den Themen Verwahrlosung, Obdachlosigkeit und Drogenkonsum will Markus R. einen auf den Zustand aufmerksam machen – und über mögliche Lösungen sprechen.
„Köln soll nicht Frankfurt werden“So will ein ehemaliger Kölner Drogenabhängiger aufklären

Markus R. hat mehrere Jahre lang auf den Straßen Deutschlands gelebt.
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„Das da hinten“, sagt Markus, „ist so ziemlich der schicksalhafteste Ort meines Lebens“. Der 40-Jährige steht an diesem Montagmittag in der Zeppelinstraße am Neumarkt und zeigt auf eine Bank. Rund einen Meter lang, dunkelgrünes Metallgitter, keine Lehne. Sie ist eine der wenigen in der belebten Umgebung rund um den Neumarkt und inmitten der Hektik heiß begehrt. Die Leute eilen vorbei, laufen in die umliegenden Läden.
Markus sieht die Kölner Innenstadt anders als diese Passanten es tun. Lange hat er nicht mit ihnen gelebt, sondern um sie herum. Ein bisschen hört es sich an, als würde er von Buchseiten ablesen, wenn er von dieser Zeit berichtet. Wie auf Kommando legt er los: „Ich bin Markus und ich bin vor zehn Jahren hier nach Köln gekommen, als ich obdachlos und süchtig auf der Straße gelebt habe“, erklärt er vor einem Schaufenster stehend. Als Guide für alternative Stadttouren hat er mehrere Jahre für den Kölner Verein Oase aus der Perspektive eines ehemals Obdachlosen durch die Neumarkt-Umgebung geführt. Seine Geschichte erzählt er nicht zum ersten Mal.
Ganz unverhofft hat sie vor kurzem jedoch eine neue Richtung eingeschlagen. In der Innenstadt traf er auf ein Kamerateam, das einen Bericht über den Instagram-Kanal „koeln.trash“ drehte. Der Kanal prangert die Verwahrlosung in Köln an, postet Aufnahmen von Dreck, Schmutz und Fäkalien an öffentlichen Orten. Mittlerweile hat er über 13.000 Follower. Sein Betreiber tritt nur anonym auf. „Ich will, dass es um die Sache geht“, erklärt der Kölner. Er hat Markus nun an den Neumarkt begleitet, denn die beiden wollen ihr neues gemeinsames Projekt vorstellen.

Mit dem Betreiber des Instagram-Kanals „koeln.trash“ (r.) hat Markus sich für die Stadttouren zusammengetan. Dieser möchte anonym bleiben.
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„Ich habe mit dem Problem der Vermüllung angefangen, aber schnell kamen auch andere Themen dazu, die das Stadtbild prägen, also die Obdachlosigkeit und der offene Drogenkonsum“, sagt der Kanal-Betreiber. Die meisten der veröffentlichten Aufnahmen kommen von den Followern selbst. „Die Leute schreiben mir jeden Tag und haben mir schon tausende Fotos geschickt.“ In Markus hat er nun einen Verbündeten gefunden, beide haben dasselbe Ziel. Und das lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: „Köln davor bewahren, sich in Frankfurt zu verwandeln“, erklärt Markus. Das Duo hat sich deshalb zusammen getan, um eine eigene Stadttour zu den Zuständen in der Innenstadt und insbesondere rund um den Neumarkt zu geben.
Heute beginnt sie an dem Ort, an dem Markus vor rund zehn Jahren einer der wenigen glücklichen Zufälle in seinem Leben ereilte. Als er an einem Wintermorgen an der kleinen Bank in der Zeppelinstraße hockt, spendet ihm eine Frau Geld. Danach kommt sie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit zu ihm. Aus der Bekanntschaft wird Liebe, die Markus von der Straße, aus der Sucht und in eine eigene Wohnung holt. Ein Zufall, ohne den es heute vielleicht weder die Touren, noch ihn geben würde. Nur rund 47 Jahre werden Menschen auf der Straße laut Experten im Durchschnitt alt.
Markus trägt ein schwarzes Outfit, Nike-Sneaker und eine Sonnenbrille mit lila Gläsern. Seine Bartkonturen sind penibel rasiert und seine Haare akkurat zurückgegelt. In seiner Hand glitzert der silberne Totenkopf-Knauf von einem Gehstock. Der ist ein der wenigen Hinweise darauf, in welchem Zustand sich Markus' Körper nach jahrelanger Obdachlosigkeit und starkem Drogenkonsum befindet. Er hat Probleme mit den Beinen, der Lunge, den Venen und dem Rücken. Manches hängt direkt, manches indirekt mit seiner Zeit auf der Straße zusammen. Nächte auf Steinboden und der Konsum von Drogen mittels Pfeife oder Spritze haben ihre Spuren hinterlassen.

Vor den Türen dieses Notausgangs der Karstadt-Filiale an der Breite Straße hat Markus oft geschlafen, als er auf Kölns Straßen lebte.
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Der Kölner ist als Kind eines Richters und einer Lehrerin in einer Stadt bei Kassel aufgewachsen, „hatte die Möglichkeit, etwas zu erreichen“ – eigentlich. Sein „eigentlich“, das sind mehrere Umstände und Entscheidungen. Das erste große „eigentlich“ ist, dass er ein Adoptivkind ist und sich bei seinen Eltern nie ganz angekommen fühlte, nicht das sein konnte und wollte, was sie sich von ihm wünschten. Er rebellierte und begann mit elf Jahren, die Schule zu schwänzen.
Dann häufen sich die „eigentlichs“. Er kommt auf seinen Wunsch wieder ins Heim und folgt einem Freund in eine Einrichtung für Schwererziehbare. Dort lernt er erst die falschen Leute und dann Heroin kennen. Es war ein Weg mit vielen Stationen, der ihn Anfang 20 in die dauerhafte Obdachlosigkeit und die Drogenabhängigkeit führt. Ein Weg, auf dem er mit dem Gesetz in den Konflikt gerät, deshalb zwei Jahre im Gefängnis sitzt und danach erfolglos versucht, ein Tattoostudio zu eröffnen. Ein Weg, auf dem er, bevor er nach Köln kommt, nicht nur die Drogenszene in Berlin und Hamburg, sondern zuletzt auch in Frankfurt kennenlernt.
Crack hat die Zustände in der Drogenszene Kölns zugespitzt
Jahrelang hat Markus eine Droge konsumiert, vor der er aus Frankfurt nach Köln flüchtete: „Crack hat ein unheimliches Suchtpotenzial. Crack ist leicht herzustellen und zu verkaufen. Und Crack ist mittlerweile auch hier angekommen.“ Mit der Droge steigert sich nicht nur die Anzahl von Abhängigen in der Innenstadt. Es änderte sich auch die Art, wie konsumiert wird. Auf diesen Zusammenhang hatte im vergangenen Jahr auch der Kölner Polizeipräsident Johannes Hermanns im Interview mit der Rundschau hingewiesen.
„Der offene Drogenkonsum hat in Köln massiv zugenommen“, sagt Markus. Geraucht und gespritzt wird demnach immer öfter an für die Öffentlichkeit gut sichtbaren Orten. Zustände, wie er sie vorher nur aus Frankfurt kannte. „Ich war geschockt, als ich das erste Mal gesehen habe, wie sich auf dem Neumarkt jemand einen Schuss gesetzt hat, während in der Minute bestimmt hundert Leute an ihm vorbeigelaufen sind.“
Markus und der „koeln.trash“-Betreiber sind auf dem Weg zur nächsten Station auf der heutigen Tour. Zwischen der Rückseite der an der Breite Straße gelegenen Karstadt-Filiale und einer Mauer befindet sich ein wenig beleuchteter Gang. Die Pflastersteine sind von Urin und anderen Körperflüssigkeiten dunkel gefärbt und der Geruch beißend. „Du musst dir vorstellen, die Leute legen dort ihre Nadeln hin. Also Objekte, die eigentlich steril eingeführt werden müssen. Die Infektionsgefahr ist für die Abhängigen deshalb sehr groß. Und das Resultat sind immer mehr Leute, die in schlimmem Zustand sind.“
Auch in die Lungengasse, wo neben einem Raum am Hauptbahnhof ein weiterer Konsumraum in der Innenstadt liegt, führt die Tour. Rund um die Einrichtung mit insgesamt zwölf Plätzen ist der Konsum gut sichtbar. Dreimal hält Markus auf dem Weg zum Josef-Haubrich-Hof an: Er findet auf der kurzen Strecke drei Spritzennadeln auf dem Boden. Mit einem Taschentuch hebt er sie auf und entsorgt sie. In den Gassen rund um die Straße hocken Personen auf dem Boden, die zu konsumieren scheinen. „In solchen Fällen gehen wir natürlich schnell vorbei und lassen die Menschen in Ruhe.“
„Der Drogenkonsumraum vom Gesundheitsamt reicht nicht aus.“

Der Josef-Haubrich-Hof ist immer wieder Anlaufstelle für Konsumierende.
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Für Markus ist klar, was es in Köln braucht, um mit der wachsenden und offenen Drogenszene richtig umzugehen. „Es gibt zu wenig Ausweichmöglichkeiten für die Konsumierenden. Wir werden immer mehr Leute kriegen, die abhängig sind. Der Drogenkonsumraum vom Gesundheitsamt reicht nicht aus.“ Wie viele andere konnte er ihn nicht benutzen, weil Haustiere in der Einrichtung in der Lungengasse verboten sind und er mit seinen beiden Frettchen auf der Straße lebte. „Man schließt also schon einen großen Teil von abhängigen Obdachlosen aus, die dann dafür sorgen, dass die Stadt zum Teil so aussieht, wie sie aussieht.“
Wie genau also der Lage Herr werden? Markus spricht sich für das Züricher Modell aus (siehe Infokasten). Zusätzlich fordert er einen Konsumraum in der Innenstadt, der viel größer ist als der in der Lungengasse. Er stellt sich ein umzäuntes Gebäude vor, in dem Plätze für den Konsum, psychologische Beratung, medizinische Hilfe, Schlafstellen, Waschräume und Plätze für den Aufenthalt vereint werden. „So könnte man die Drogenszene minimal sichtbar machen und den Menschen gleichzeitig die Unterstützung geben, die sie brauchen.“
Markus möchte durch seine Touren nicht nur zu Verbesserung des Kölner Stadtbilds beitragen. „Wenn durch meine Arbeit nur eine Person weniger in der Abhängigkeit landet, wäre das schon großartig“, erklärt er. „Ich hatte unfassbares Glück, dass ich meine Frau kennengelernt habe. Nur, weil ich sie mehr liebe als mich selbst, habe ich es aus der Sucht geschafft. Aber das passiert eben nicht jedem.“
Die Touren von Markus können über einen Link in der Beschreibung des Instagram-Kanals „koeln.trash“ gebucht werden. Für Erwachsene kosten sie 20 Euro. Mit diesem Geld finanziert das Duo laut eigenen Angaben die Organisation, übrig bleibe maximal ein Taschengeld. Damit auch Personen, die sich kein Ticket leisten können, oder auch Schulklassen teilnehmen können, sei man stets offen für Sonderanfragen.