95 verschiedene Stellen mussten Jugendamtsmitarbeiter abtelefonieren, um eine Unterbringung für einen Jungen zu finden. Bei Kindeswohlgefährdung gibt es zu wenig Inobhutnahme-Stellen in Köln.
KindeswohlgefährdungKölns Jugendämter beklagen zu wenige Plätze für Kinder in Not

Ein Mann hält ein Kind fest am Arm.
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Eine 14-Jährige erzählt in der Schule, dass sie zuhause geschlagen wird und zwangsverheiratet werden soll. Das Mädchen ist in Panik. Die Lehrkräfte informieren das zuständige Bezirksjugendamt. „Das Mädchen hat auch erzählt, dass ihrer jüngeren Schwester dasselbe bevorsteht“, sagt eine Sozialarbeiterin im Gespräch mit der Rundschau. „Aber ich konnte die jüngere Schwester nicht direkt mitnehmen, obwohl ich das am liebsten gemacht hätte.“ Der Grund: Es gab keine Stelle, wo das Kind so schnell unterkommen konnte.
In Köln gebe es viel zu wenig Inobhutnahme-Stellen, bei denen Kinder und Jugendliche kurzfristig untergebracht werden können, beklagen Mitarbeiterinnen eines Bezirksjugendamtes im Gespräch mit der Rundschau. Als städtische Angestellte wollen sie anonym bleiben. Britta Dahm, Abteilungsleitung der Bezirksjugendämter und des Sachgebietes UMA (unbegleitete minderjährige Ausländer), bestätigt auf Rundschau-Nachfrage das Dilemma. „Die Situation bei den Stellen für die Inobhutnahme und der stationären Jugendhilfe ist in der Tat das größte Problem. Da telefoniert öfter ein ganzes Team, um einen Platz zu finden“, sagt Dahm.
Fachkräftemangel als Grund
Insgesamt können die Kölner Bezirksjugendämter auf 226 Inobhutnahme-Stellen zugreifen. Für Kinder unter 14 Jahren gibt es aktuell in Köln 139 Plätze. Außerhalb kommen zwölf hinzu. Für Jugendliche über 14 sind in der Stadt 73 Plätze, bei denen sie kurzfristig unterkommen können. Außerhalb kommen noch zwei weitere Plätze hinzu.
Grund sei der Fachkräftemangel auch bei den Trägern, die deshalb schon Stellen schließen mussten. „Der Fachkräftemangel macht auch vor uns nicht halt“, sagt Dahm und führt fort: „Das ist allerdings nicht nur in Köln ein Problem, sondern deutschlandweit.“ Die Suche nach einer Notunterbringung für ein Kind oder einen Jugendlichen bindet Kräfte in den Jugendämtern und frustriert die Mitarbeitenden.
Mitarbeitende mussten bis Bremen fahren
Wenig besser sieht es aus, wenn sie nach einer dauerhafteren Unterbringung in einer Wohngruppe oder bei einer Pflegefamilie suchen. „Eine Kollegin hat 95 Einrichtungen abtelefoniert, ob sie einen Jungen aufnehmen konnten“, erzählt eine Sozialarbeiterin. Alle winkten ab. Der Junge sei ihnen „zu krass“. Um Kinder in einer passenden Umgebung unterzubringen, sind Mitarbeitende des Jugendamtes auch schon bis nach Bremen gefahren. Ein immenser Aufwand.
Immerhin: Die Stellen im Gefähdungs-Sofort-Dienst (GSD), den die Stadt in jedem der neun Bezirksjungendämter unterhält, sind alle besetzt. „Der GSD ist voll besetzt. Dort gibt es 45 Vollzeitplanstellen. Den Kinderschutz, der uns sehr wichtig ist, können wir gewährleisten. Das ist ein staatliches Wächteramt. Das können wir nicht abgeben“, sagt Dahm.
Reduzierte Standards in den Jugendämtern
Zumindest zeitweise aufgeben kann die Stadt indes andere Leistungen der Bezirksjugendämter. Und: Das musste sie in den meisten der neun Bezirke machen. Grund: fehlendes Personal beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD). Beratungen bei Trennungen und Scheidungen, Umgangsregelungen und präventive oder unterstützende Gespräche in schwierigen Familiensituationen sind größtenteils gestrichen oder deutlich reduziert. „In den meisten Bezirksjugendämtern gab es seit Längerem eine Standardreduzierung“, bestätigt Dahm. Sie soll allerdings nur vorübergehend sein. „Wann diese aufgehoben werden könnte, können wir aktuell noch nicht verbindlich sagen“, erklärt Dahm.
In welchen Bezirken die Jugendämter besonders mit Fluktuation, Krankenstand und unbesetzten Stellen zu kämpfen haben, will die Stadt nicht an die große Glocke hängen. Klar ist, dass es stadtweit beim ASD 217 Planstellen gibt. „Die Personalsituation hat sich im Vergleich zu vor einem Jahr deutlich entspannt. Während beim Allgemeinen Sozialen Dienst damals rund 30 Prozent der Stellen nicht besetzt waren, sind es jetzt unter zehn Prozent. Viele der neuen Mitarbeitenden sind in der Einarbeitung, die sehr wichtig ist. Ich bin optimistisch. Die Motivation der Mitarbeitenden ist hoch“, sagt Dahm.
Erste Verbesserungen
Die hohe Motivation ist auch bei den Sozialarbeiterinnen, die mit der Rundschau sprechen, deutlich. „Unsere Arbeit ist so wichtig.Jeden Tag erleben Kinder häusliche Gewalt“, sagt eine Jugendamtsmitarbeiterin. Sie bestätigt, dass sich seit der großen Protestaktion im März ein wenig zum Besseren gewendet hat. „Immerhin sollen wir endlich Diensthandys bekommen. Sie sollen diesen Monat geliefert werden. Das ist ein kleiner Schritt, über den wir uns freuen“, heißt es aus dem Kreis der Mitarbeitenden. Dass der Wunsch nach Dienstlaptops abgelehnt wurde, wird bedauert.
Im Zusammenhang mit den Protesten der Jugendamtsmitarbeitenden hatte die Stadt im März dieses Jahres mitgeteilt, dass „intensiv“ nach Verbesserungen gesucht werde. Eine Verbesserung könnte in einer Erhöhung der Bezahlung bestehen. „Eine Großstadtpauschale für Mitarbeitende in den Bezirksjugendämtern ist in der Prüfung. Wir prüfen ebenso die Personalbemessung und die Aufgaben“, erklärt Dahm auf Nachfrage. Wann die Prüfung abgeschlossen sein wird, ist noch unklar.
Erste Erfolge gibt es bei einer anderen Maßnahme. Seit Dezember 2022 sind Studierende der Sozialen Arbeit als Hilfskräfte in den Bezirksjugendämtern tätig. „Die Angebote an studentischen Hilfskraftstellen sind sehr erfolgreich. Die Stellen sind wirklich begehrt. So gewinnen wir auf längere Sicht auch neue Fachkräfte. Aktuell sorgt dies für Entlastung und ist eine sehr gute Akquise“, sagt Dahm. Sie ist seit rund einem Jahr im Amt und kennt die Arbeit in den Jugendämtern aus langjähriger eigener Erfahrung als Sozialarbeiterin. Seit 23 Jahren arbeitet Britta Dahm bei der Stadt Köln. Positiv beurteilt sie auch, dass die Bezirksjugendämter eng mit der Technischen Hochschule Köln kooperierten.
Fälle von Kindeswohlgefährung gestiegen
586 Fälle von Kindeswohlgefährdung wurden nach der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik im Jahr 2022 in Köln erfasst. Im Vergleich zu den Vorjahren ist das ein deutlicher Anstieg.
Im Jahr 2019 gab es 510 Fälle, 2020 waren es 500 und 2021 wurden 450 erfasst. Diese geringeren Zahlen führen Experten auch auf Lockdowns und Schul- und Kitaschließungen während der Corona-Pandemie zurück. So konnten Fachleute weniger gut auf häusliche Probleme bei Kindern aufmerksam werden und die Jugendämter einschalten.
267 Mal stellten die Kölner Jugendämter 2022 die latente Gefahr einer Kindeswohlgefährdung, fest. Das ist der höchste Wert der vergangenen vier Jahre.
4655 betrug die Gesamtzahl der so genannten „8a-Verfahren“, in denen Kindeswohlgefährdung überprüft wird, 2022 im Bereich der Stadt Köln .
Die Gründe für eine Fremdunterbringung eines Minderjährigen sind vielfältig. Das Kindeswohl kann unter anderem durch körperliche Gewalt zuhause oder Verwahrlosung gefährdet sein.