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Kommt ins Kölner LiteraturhausStewart O'Nan beschreibt einen tragischen Teufelskreis

3 min

Zeichnet Milieus: Autor Stewart O’ Nan.

Alles Schlimme ist schon geschehen, wenn das Buch beginnt.

„Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen umzubringen“, erinnert sich Marie Oliviera im ersten Satz von Stewart O’Nans neuem Roman „Ocean State“. Damals, mit 13, vergötterte Marie ihre ältere Schwester geradezu. Denn Angel hatte im Gegensatz zu ihr selbst schlagfertigen Witz, Sex Appeal und einen reichen Freund. Das alles war dennoch zu wenig.

Auch wenn man erst am Ende genau erfährt, was dem Opfer Beatriz „Birdy“ Alves seinerzeit passierte, geht es dem Autor keineswegs um einen Thriller. Sondern um die Chronik eines Familienschiffbruchs, um den Rausch junger Liebe und den Weltuntergangsschmerz der ersten großen Enttäuschung.

Stewart O'Nan beschreibt eine unaufhaltsame Talfahrt

Die Bühne für diese unaufhaltsame Talfahrt könnte kaum besser gewählt sein, denn Ashaway, Rhode Island (Beiname: Ocean State) ist auf dem absteigenden Ast. Die Schnur- und Garnfabrik geschlossen, überall zerbrochene Scheiben, die in den zweitklassigen Geschäften immerhin mit Sperrholz kaschiert werden. Der amerikanische Traum wohnt anderswo.

Für die Olivieras laufen die Dinge ähnlich: „Unser Vater war weg, und unsere Mutter konnte nicht aufhören, verliebt sein zu wollen.“ Auf den Matrosen Wes folgt Feuerwehrmann Russ, beide ebenso wenig Prachtexemplare wie das verrottende Haus, in dem Carol mit ihren Töchtern wohnt. Aber Angel hat ja Myles Parrish, den begehrten Spross betuchter Eltern.

Sicher, sie ist verliebt, flirtet aber zugleich mit der höheren Schicht, dem besseren Leben. Wohl wissend, dass der Geliebte im nächsten Jahr auf dem College leichte Beute ebenso reicher Mädchen werden dürfte. Doch noch kostet sie die Fahrten im Sportwagen, den Sex im Strandhaus aus. Wenn da nicht Birdy wäre, die Klassenkameradin und Nebenbuhlerin.

Roman „Ocean State“ erzählt Dreiecksgeschichte aus vier Perspektiven

Der 61-jährige Schriftsteller aus Pittsburgh/Pennsylvania vertraut diese Dreiecksgeschichte vier Perspektiven an: der von Angel, Birdy, Carol und insbesondere Marie. Allein Myles bleibt gewissermaßen stumm, bloße Projektionsfläche der Mädchen, deren Träume und Tränen er offenkundig nicht wert ist.

Zur Person

In Pittsburgh wurde Stewart O’Nan 1961 geboren und arbeitete zunächst als Flugzeugingenieur. Für sein Romandebüt „Engel im Schnee“ erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Zu den gut 20 in verschiedenen Milieus angesiedelten Romanen zählen „Emily, allein“, „Die Chance“, „Das Glück der anderen“ oder „Westlich des Sunset“. (Wi.)

Stewart O’Nans Prosa lebt von der Kraft der Unangestrengtheit, dem fantastischen Scharfblick für sprechende Details und einer Charakterzeichnung, die Figuren immer von innen heraus durch ihre Sätze und Gedanken plausibel macht. Man spürt zum Beispiel geradezu, wie Carol bei ihren teuren Restaurantbesuchen mit Russ die Schnellimbiss-Tristesse und die Ödnis ihres Jobs im Pflegeheim hinter sich lässt.

Wer so erzählen kann, muss nicht dozieren. Der Autor gibt keiner der erotischen Rivalinnen einen Sympathiebonus, sondern lotet ihre gemischten Gefühle zwischen Lust und Scham, kurzzeitigem Durchblick und blindem Hass aus. Entscheidender Brandbeschleuniger werden dann die sozialen Medien. Als die lange ahnungslose Angel auf Facebook das intime Foto von Myles und Birdy sieht, spürt sie zur persönlichen Enttäuschung noch die Schmach öffentlicher Demütigung. Und Birdy haftet für den kurzen Rest ihres Lebens das Image der lasziven Schlampe an. Bis von ihr nur das Bild des verschwundenen Mädchens in den Abendnachrichten bleibt.

Es gibt eine Ermittlung, einen Prozess, ein Urteil, wie sich das nach einem Verbrechen gehört. Doch letztlich sind sich hier drei Personen in einem tragischen Teufelskreis begegnet.

Stewart O’Nan: Ocean State. Roman, Deutsch von Thomas Gunkel. Rowohlt, 253 S., 24 Euro. Lesung in Köln: 3.5., 19.30 Uhr, Literaturhaus, Großer Griechenmarkt 39.