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„Viele Freunde verstehen das nicht“Pflege statt Party – Wenn junge Menschen sich um ihre Angehörigen kümmern

Lesezeit 5 Minuten
Eine jung Frau hält die Hand einer alten Frau.

Krankenhausbesuche, Notfälle und Gespräche mit Pflegepersonal: Die Verantwortung für Familienangehörige zu übernehmen, fällt manchmal schwer (Symbolbild).

Zwischen Selbstverwirklichung und familiärer Verantwortung: Zwei junge Kölner berichten vom Leben als Young Carer.

Es ist ein kühler Morgen in Köln-Ehrenfeld, als Valentin sich ein letztes Mal die Schuhe zubindet. Neben ihm steht ein prall gepackter Rucksack, mehr Symbol als Gepäck. Der 26-Jährige kehrt der Großstadt den Rücken und zieht zurück in sein Heimatdorf in Niedersachsen. Nicht, weil er Köln nicht liebt. Nicht, weil er das Studium bereut oder seine Freunde nicht vermissen wird. Sondern, weil sein Vater 80 Jahre alt ist.

Ein Leben in der Zwickmühle

Valentin hat sich entschieden, gegen die Stadt, gegen berufliche Möglichkeiten, gegen die Nähe zu seinem Freundeskreis. Stattdessen: ein Alltag mit Pflege, Generationenkonflikten und Verantwortung. „Viele meiner Freunde verstehen meine Entscheidung nicht“, sagt er. In Köln hätte er bessere Perspektiven, verpasst nun Partys und führt eine Fernbeziehung. Seine Freundin, gebürtige Kölnerin, erzählt, dass sie sich bisher schwer damit tut, in ein 8000-Seelen-Dorf zu ziehen, der Kontrast zum städtischen Leben sei groß. Vieles, was sie in Köln liebt, würde sie dort vermissen. 

Doch Valentin empfindet die Ruhe der Natur als wohltuend. Auf dem Land konnte er sich zudem mit einem eigenen kleinen Fitnessstudio einen Traum erfüllen. Abends sitzt er mit seinen Eltern beim Essen. „Es ist wertvolle gemeinsame Zeit“, sagt er. Der Generationenunterschied sei spürbar: Was anderen bei gelegentlichen Elternbesuchen auffällt, ist für ihn Alltag geworden. Er wohnt jetzt im Haus nebenan. 

Wenn Fürsorge zur Lebensaufgabe wird

Diese innere Zerrissenheit kennen auch andere. Die 22-jährige Studentin Merve aus Köln kümmert sich seit dem Tod ihrer Mutter um ihre 95-jährige Großmutter. „Erst war es nur einmal die Woche einkaufen oder zum Arzt. Dann wurde es mehr. Krankenhausbesuche, Notfälle, Gespräche mit Pflegepersonal. Ohne, dass ich eine Entscheidung getroffen hätte, war ich plötzlich alleine zuständig.“ Ein Kind zu bekommen, ist meist eine bewusste Entscheidung, sagt sie. Unerwartet früh Pflegeverantwortung zu übernehmen, sei es dagegen nicht und lasse sich oft nur schwer mit dem eigenen Leben vereinbaren.

Für Merve ist es manchmal schwer, ihre 95-jährige Oma zu waschen. Nicht, weil sie es nicht tun will, sondern weil es eine intime Situation ist, die beiden emotional viel abverlangt. Ihre Oma, früher selbst eine stolze, unabhängige Frau, schämt sich manchmal, Hilfe zu brauchen. Merve spürt diesen Zwiespalt und versucht, liebevoll und respektvoll mit der Situation umzugehen.

Merve und Valentin heißen in Wirklichkeit anders, sie möchten ihren Namen aber nicht öffentlich nennen.

Young Carer, eine oft übersehene Rolle

Merve ist eine sogenannte Young Carer. Das sind Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene, die regelmäßig die Pflege kranker, behinderter oder suchtkranker Angehöriger übernehmen, oft im Verborgenen. Sie begleiten zu Arztterminen, leisten emotionalen Beistand, kümmern sich um Haushalt, Finanzen und Bürokratie.

„Ich bin immer in Gedanken bei meiner Oma“, erzählt Merve. Neben körperlichen Einsätzen übernimmt sie auch alle organisatorischen Aufgaben, an die sie sich ständig erinnern muss, dies wird zum „Mental Load“. Mental Load – auf Deutsch „mentale Last“ – beschreibt die ständige Denkarbeit, die mit der Organisation und Koordination des Alltags verbunden ist. Es geht dabei nicht nur um das Ausführen von Aufgaben, sondern vor allem um das ständige Mitdenken, Planen und Erinnern.

Merve sagt, sie lebe zwei Leben. Sie wird von Ärzten und Pflegeeinrichtungen kontaktiert, kümmert sich um Anträge. „Ich wollte Blindengeld beantragen, doch obwohl meine Oma schon lange blind ist, reichte die Bestätigung vom Augenarzt nicht aus. Jetzt muss ein Gutachten her“, erzählt sie. Immer wieder bürokratische Kraftakte, die kaum anerkannt werden. Von außen wird oft erwartet, dass man die Pflege gerne übernehme. „Es ist doch Familie“, heißt es dann. Mental Load ist belastend, weil es dauerhaft im Kopf präsent ist und selten als richtige Arbeit anerkannt wird. Wer es trägt, fühlt sich häufig erschöpft, obwohl äußerlich „nichts getan“ wurde.

Doch das ist kein Einzelfall: Auch wenn Expertinnen und Experten von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, handelt es sich bundesweit um rund 480.000 junge Pflegende in Deutschland. Im Raum Köln sind schätzungsweise 6.000 Minderjährige betroffen, die in ihrer Freizeit Aufgaben übernehmen, die eigentlich Erwachsene leisten sollten.

Zwischen Überforderung und Reife

Dr. Ines Brock-Harder, Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, erklärt: Manche Menschen erleben durch die Pflege eine tiefgreifende persönliche Entwicklung. Wenn die Situation irgendwann überstanden ist – sei es, weil die Krankheit geheilt wurde oder, im negativen Fall, weil die betreute Person verstorben ist – kann nach dem Trauerprozess ein posttraumatisches Wachstum einsetzen. Auch eine Reifeentwicklung ist dann möglich.

Doch es werde kritisch, „wenn die Kinder und insbesondere die Jugendlichen ihre normalen Entwicklungsaufgaben nicht mehr verfolgen können“. Wenn Schule, Ausbildung oder Freundschaften vernachlässigt werden, könne das schwerwiegende Folgen haben: Es könne zu Überforderung, depressiven Verstimmungen, sozialem Rückzug oder Wut kommen.

Rechtliche Möglichkeiten und Entlastung für Young Carer

Pflegende Angehörige können Unterstützung beantragen. Wer mindestens zehn Stunden pro Woche an zwei Tagen pflegt und dabei weniger als 30 Stunden arbeitet, kann Rentenpunkte erhalten. Auch Unfallversicherung und Pflegezeitregelungen gehören zu den Möglichkeiten. Die Pflegekassen bieten zudem kostenlose Kurse und Beratung an. Ansprechpartner sind Pflegestützpunkte oder die Pflegekassen selbst.

Die klassische Lebensabfolge – Ausbildung, Karriere, Familie, dann Pflege – verschiebt sich für Young Carer wie Valentin oder Merve. Sie leben eine Jugend mit Verantwortung. Merve sagt: „Ich spreche von verpassten Nächten, geplatzten Reisen, einer Nähe, die manchmal zu viel ist.“ Und von Schuldgefühlen, wenn sie sich doch einmal eine Auszeit für sich nimmt.

Valentins Entscheidung war keine leichte. Doch er sagt: „Ich will später nicht sagen müssen: Ich war nicht da, als es drauf ankam.“ (hn)