„Wir wollen kein Kind verlieren“Distanzlernen für viele Schüler nicht möglich

Lesezeit 4 Minuten
nab20210305_Schulsozialarbeit_01

Sie stehen für ein engagiertes Team von rund 40 Pädagogen: Ulrich Becker, Martina Hülsmann und Carolin Witte (v.l.)

Köln – Das große Fenster steht weit offen, direkt neben dem Schuleingang. Eine Mutter reicht ein Formular durch, sie braucht Hilfe beim Ausfüllen. Die Sozialarbeiterin im Beratungsfenster erklärt und fragt nach, bis das Problem gelöst ist. In Meschenich ist Schule mehr als Unterricht. Viel mehr. „Das muss auch so sein“, sagt Schulleiter Ulrich Becker. „Wir wollen die Eltern erreichen. Das ist auch gut für die Kinder.“

Im zurückliegenden Corona-Jahr war das noch wichtiger als sonst. In die „Schule IM Süden“ gehen Kinder aus 28 Nationen. Etwa 60 der 420 Kinder an den Standorten in Immendorf und Meschenich haben Förderbedarf. Beim Lernen, in Sachen Sozialverhalten, was ihre Emotionen angeht. Zusätzlich gibt es zwei Vorbereitungsklassen. Hier lernen geflüchtete Kinder und Kinder aus Osteuropa Deutsch und können sich an ihr neues Lebensumfeld gewöhnen.

Zurückhaltend und ruhig erzählt Becker, was er und sein Team tun. In einer Schule der einfachsten Art, in grauen Modulbauten und Pavillons. Becker ist seit 25 Jahren Lehrer in Meschenich, seine Kollegin Martina Hülsmann ebenso lange. Weg wollten sie beide nie.

Zu wenig Tablets

„Wir wollen kein Kind verlieren.“ Der Gedanke treibt das Team der Schule IM Süden an, zu dem auch Sozialarbeiterin Carolin Witte gehört. Das ist schwer, und manchmal gelingt es nicht. In den oft beengten Wohnverhältnissen, in denen die Kinder leben, fehlt es an vielem. Ein eigener Arbeitsplatz ist die große Ausnahme, ein Tablet fürs digitale Lernen hat hier kaum jemand. „Wir haben Familien, die besitzen nur ein einziges Handy“, weiß Witte.

Lange hatte die Schule in Meschenich nur 80 Tablets für 320 Kinder. Seit kurzem sind es 144. Doch hier hat fast niemand WLAN oder einen Handyvertrag, 200 Grundschüler leben in Familien, die Transferleistungen beziehen. „Dann nützen ihnen die Tablets, die wir ihnen zur Verfügung stellen können, auch nichts. Sie können nicht damit arbeiten“, sagt Schulleiter Becker, und ausnahmsweise klingt so etwas wie Frust mit. „Für Schüler hätte man zumindest einen Teil Geräte anschaffen müssen, an denen sie mit SIM-Karte arbeiten können, wenn sie kein WLAN haben.“

Bei der Ausweitung der Ausstattung aufgrund der Pandemie seien „zunächst natürlich die bestehenden Rahmenverträge“ für iPads ohne SIM-Karten-Betrieb genutzt worden, teilte eine Stadtsprecherin mit. Zudem seien die Alternativgeräte 150 Euro teurer und es fielen Kosten für die SIM-Karten an. Weil deshalb viele Schüler und Schülerinnen vom digitalen Lernen ausgeschlossen sind, wird das in der Schule IM Süden nur zusätzlich angeboten. Um den Kindern gerecht zu werden, die WLAN haben und deren Eltern sie unterstützen können. „Auch diese Eltern schicken uns ihre Kinder. Sie wissen, dass wir uns auch um sie gut kümmern“, freut sich Ulrich Becker.

Kinder freuen sich auf Unterricht

„Im Lockdown und im Wechselunterricht werden deshalb alle Arbeitsblätter einer Woche ausgedruckt und den Kindern montags mitgegeben“, schildert Konrektorin Martina Hülsmann. Freitag ist Abgabe an der Schule, aber nicht alle Kinder kommen. Die Lehrkräfte rufen an, gehen zu den Kindern nach Haus, halten den Kontakt aufrecht. Wenn es nötig ist, bringen sie auch Scheren oder Stifte mit. Oder sie versuchen, das Kind in der Notbetreuung unterzubringen, wo es in Ruhe lernen kann.

„Manche Eltern konnten selbst nie eine Schule besuchen. Wir sagen ihn dann: ‚Sie haben da ein ganz tolles Kind, das es später leichter hat, wenn es jetzt in die Schule geht‘“, sagt Hülsmann. In der Phase des freiwilligen Präsenzunterrichts hätten viele Eltern ihre Kinder trotzdem nicht zu Schule geschickt – aus Angst vor einer Ansteckung. Dass sie seit Mitte Februar wieder in die Schule müssen, darüber hätten sich die Kinder riesig gefreut. „Sie sind morgens mit strahlenden Gesichtern durch die Tür gekommen. Und mit dem Satz: ‚Endlich wieder Schule!‘“

Den Lehrern stehe ein weiteres anstrengendes Jahr bevor, so Becker. Denn für rund 20 Prozent der Kinder im ersten Schuljahr sei es besser, diese Phase noch einmal zu durchlaufen. „Im ersten Jahr lernen sie die Grundlagen, auch die im sozialen Lernen, finden sich in den Schulbetrieb ein. Das ist die Basis für alles weitere Lernen. Und die fehlt vielen Kinder gerade sichtlich“, schildert Becker. Es sei bitter zu sehen, wie die Schere zwischen den Kindern durch Corona immer weiter aufgehe. Um diese Kinder zu fördern, brache man mehr Personal. Und mehr Platz.

Das könnte Sie auch interessieren:

Der ist in der Schule IM Süden schon lange nicht mehr ausreichend vorhanden. „Unsere Sonderpädagogen arbeiten schon jetzt auf den Fluren. Und für das neue vierzügige erste Schuljahr müssen wir unsere Bibliothek auflösen, um einen zusätzlichen Klassenraum zu schaffen.“ Ulrich Becker hat für die Zukunft nur einen großen Wunsch: „Wir wollen Kinder, die es dringend nötig haben, in kleinen Klassen fördern. Nur so haben auch sie einen guten Start in der Schule. “

Rundschau abonnieren