Interview

Zwei Jahre Ukraine-Krieg
Linda Mai: „Du musst bereit sein, jeden Moment zu sterben“

Lesezeit 5 Minuten
Eine Frau sitzt in einer Halle vor Paletten mit Hilfsgütern.

Linda Mai vom Blau-Gelben Kreuz in der Lagerhalle des Vereins.

Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Linda Mai vom Blau-Gelben Kreuz in Köln ist seitdem im Einsatz – und immer wieder vor Ort. 

Sie waren erst kürzlich mit einem Hilfstransport in der Ukraine. Was haben Sie erlebt?

Das ist wie eine Parallelwelt, wenn man sich aus Köln dorthin begibt. Wir hatten Fahrzeuge hingebracht, Medizin und Medizinprodukte. Wir haben Krankenhäuser, Universitäten und viele NGOs besucht. In einem Krankenhaus haben wir uns zur Mittagszeit mit Ärzten getroffen. Die sagten: Wir haben nicht so viel Zeit, wir sind schon so müde. Eben ist der 57. Schwerverletzte am heutigen Tag gebracht worden.

Es ist also schlimm in den Krankenhäusern?

Die Krankenhäuser sind überfüllt. Das ist wie beim Metzger. Auf einer Intensivstation lag ein schwerverletzter Jugendlicher nach einem Bombenangriff in Nikopol. Sein Brustkorb war verletzt bis zum Herzen. Dabei sagen die Mediziner: Wer es bis ins Krankenhaus schafft, hat eine ziemlich gute Überlebenschance. Denn viele schaffen es nicht bis dorthin, weil Materialien fehlen. Oft sind Fenster mit Platten vernagelt, die Ärzte müssen Jacken tragen, weil es keine Heizung gibt. Die Schwerverletzten werden in den Krankenhäusern in der Nähe der Front stabilisiert und dann weiter ins Landesinnere gebracht. Die Krankenhäuser sind voller  Menschen mit Amputationen.

Wer ist Opfer von Amputationen?

Das geht durch alle Altersstufen. Wir haben nach offiziellen Zahlen um die 59.000 Menschen mit Amputationen. Die Kinderhäuser sind voll von Kindern mit Behinderung. Ich habe einen kleinen Jungen aus Saporischschja getroffen. Er und seine Mama sind mit der Druckwelle aus dem fünften Stock ihres Hauses rausgeschmissen worden. Der Junge hat keine Beine mehr, er ist für immer körperlich und geistig behindert. Und solche Kinder haben wir viele. (Sie zeigt auf dem Handy ein Bild des Jungen.)Wie geht es grundsätzlich den Kindern?

Sie leiden besonders. Sie haben seit zwei Jahren durch den Krieg nicht mehr zuverlässig Kindergarten oder Schule. Davor waren zwei Jahre Corona. Also vier Jahre im Ausnahmezustand. Die Menschen versuchen alles, damit die Kinder lesen und schreiben lernen. Aber die Schulen haben nur geöffnet, wenn es einen Bunker gibt. Es gibt einzelne Tage, an denen die Kinder kommen können. Aber immer müssen die Eltern entscheiden, ob es an dem Tag zu gefährlich ist oder nicht. Außerdem fehlen digitale Geräte. In den Kindergärten müssen die Kinder auch jedes Mal, wenn Luftalarm ist, in den Bunker. Wenn man bedenkt, dass es am Tag durchschnittlich elfmal Luftalarm gibt in der Ukraine, kann man sich an den Fingern abzählen, wie viel die Kinder in den Bunkern sitzen. Die Erwachsenen ignorieren inzwischen den Alarm. Deswegen sterben so viele in den Häusern.

Die Erwachsenen gehen nicht mehr in den Bunker?

In manchen Gebieten wie Charkiw kommen die Bomben einfach. Da schaffen es die Ukrainer nicht mehr, Alarm auszulösen. Erst hört man, dass eine Rakete fliegt, dann schlägt sie auf und erst ein paar Minuten später kommt Alarm. Ich bin auch schon im Auto gefahren als Alarm losging. Ich habe die Leute gefragt, wie sie es schaffen, damit umzugehen. Die haben gesagt: Zähl bis 60 und dann atmest du einfach aus.

Das ist unvorstellbar.

Du musst in der Ukraine bereit sein, jeden Moment zu sterben. Ja, das ist unglaublich. Und trotzdem gehen die Menschen zur Arbeit, in die Schule oder in den Kindergarten.

Was macht das mit den Menschen?

Die Veränderung sehe ich jedes Mal. Die Zivilbevölkerung ist sehr nah mit der Armee verbunden. So wie es der Armee geht, so fühlt die sich auch. Das liegt daran, dass jeder jemanden aus dem Verwandten- oder Freundeskreis an der Front hat oder schon jemanden verloren hat. Die Situation an der Front spiegelt sich sofort in der Zivilbevölkerung.

Und die Situation ist nicht gut, nicht wahr?

Ja, wir haben zurzeit nicht genug Waffen. Man kann sich nicht mehr verteidigen, weil die Waffen fehlen. Es ist zu befürchten, dass wir Gebiete verlieren.

Sie haben auch Gebiete besucht, die zwischenzeitlich von den Russen okkupiert waren.

Das ist fürchterlich. Nicht nur die Gebäude sind ausgebrannt, die Menschen dort sind gezeichnet. Die Gesichter sehen so aus, als ob man sämtliche Energie rausgezogen hat. Die Menschen sind einfach hoffnungslos. Sie sagen: Lieber bringe ich mich um als noch einmal Okkupation. Gerade die Alten bleiben aber in den Gebieten. Sie sagen, dass sie nicht wissen wohin sonst. An zerstörten Häusern steht: Hier wohnen alte Menschen. Damit Hilfstransporte anhalten. Die Alten und die Kinder, das sind die Verlierer des Krieges.

Wie halten Sie diese Bilder aus?

Indem ich weiter ackere. Hier wird gleich ein Lkw gepackt. Da gehe ich hin und nehme diese Energie mit. Ich mache immer weiter. Wenn ich müde bin, schlafe ich. Aber sonst mache ich einfach weiter.

Wie wichtig ist die Demonstration am Jahrestag des Kriegsausbruchs?

Das ist ungeheuer wichtig. Die Ukrainer schicken direkt Bilder nach Hause. Das gibt Kraft und es erzeugt Druck auf die Politik. Wir brauchen dringend Waffen. Jeder soll sich überlegen, in welcher Welt wir leben wollen. Und wenn diese Welt Demokratie und Freiheit heißt, dann heißt es wehrhaft zu werden. Putin ist auch 2014 nach der Krim-Annexion nicht friedlicher geworden. Und er wird es auch weiterhin nicht tun. Er greift nicht nur die Ukraine an, er greift unsere zivilisierte, freiheitliche demokratische Welt an und ist an Verhandlung null interessiert.

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