Bob Dylan wird 80Ewige Flucht vor der Deutungsmeute

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Skeptischer Blick auf die Welt: Archivbild von Bob Dylan, ds zu seinem Album „Rough And Rowdy Ways“ erschien. 

Skeptischer Blick auf die Welt: Archivbild von Bob Dylan, ds zu seinem Album „Rough And Rowdy Ways“ erschien. 

Köln – „Alles, was ich tun kann, ist ich selbst zu sein, wer immer das ist.“ Dieses Bekenntnis von Bob Dylan bestätigt seinen Ruf als Sphinx und passt zur berühmten Rolle in Sam Peckinpahs Spätwestern „Pat Garrett jagt Billy the Kid“. Da ist er ein komischer Kauz mit schiefem Lächeln, ein Mann, dessen Wurfmesser ins Schwarze treffen. Sein Name: Alias – ein Passepartout für alle möglichen Identitäten.

Dieser Schlüssel passt wenigstens halbwegs auf jenen Robert Allen Zimmermann aus Duluth/Minnesota, der am Pfingstmontag 80 Jahre alt wird. Unberechenbarkeit ist wohl die größte Konstante seiner Kunst und seines Charakters. Das gilt für die mal dahingeknödelten, mal in Sternstunden gipfelnden Konzerte ebenso wie für das Verhalten gegenüber seinen Fans: „Dass ihr mein Zeug mögt, heißt nicht, dass ich euch etwas schulde“, schnauzt er sie einerseits an.

Doch wenn er dann Ende März 2020 die 17-Minuten-Ballade „Murder Most Foul“ veröffentlicht, geschieht das „in Dankbarkeit für all eure Unterstützung und Loyalität durch die Jahre“. Und was für ein Geschenk er da macht: ein Requiem auf John F. Kennedy, das zugleich ein bewohnbares Amerika beerdigt und sich mit Wolfman Jack und der Acid-Queen vor dem Horror des Attentats in den Kosmos der Musik flüchtet: von Stan Getz bis Nina Simone, von Stevie Nicks bis Nat King Cole.

Dem Grauen und den flackernden Irrlichtern rollt er einen sanften Klangteppich aus, über den er eine schäbig-zerkratzte Stimme nah am Sprechgesang schleppt. Der Song ist der Schlusspunkt des altmeisterlich entspannten Albums „Rough And Rowdy Ways“, das mit einem Selbstporträt beginnt: „I Contain Multitudes“. Ähnlich beeindruckend: „Tempest“ von 2012: Wie er da in 14 Minuten die „Titanic“ untergehen lässt und in einem schaurig-schönen Walzer Hunderte ins nasse Grab wiegt – einzigartig bis ins brutale Detail.

Wenig gemein mit der Generation als deren Stimme er galt

Trotz dieser sprachlichen Bildgewalt verstehen viele nicht, dass Bob Dylan 2016 den Nobelpreis für Literatur bekommt (und natürlich die Verleihung schwänzt). Nur ein halbstarker Originalitäts-Klimmzug der Stockholmer Juroren? Wohl kaum. Die Künstlernamensnähe zum Dichter Dylan Thomas ist kein Zufall. Schon Mitte der 60er ist es der Musiker leid, neben Joan Baez auf moralischer Mahnwache die Folk-Klampfe zu halten. „Ich hatte kaum etwas gemeinsam mit der Generation, deren Stimme ich angeblich war“, sagt er später.

Und lässt schon früh dem milden Hippie-Hit „Blowin’ In The Wind“ apokalyptische Rockvisionen wie „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ folgen. Oder den mutmaßlich besten Rocksong aller Zeiten: „Like A Rolling Stone“, das böse Märchen von der Prinzessin, die vom hohen Ross in den Rinnstein stürzt.

Fortan vermessen die Dylanologen akribisch seine Verse, finden Spuren von Arthur Rimbaud, Edgar Allan Poe, Dante oder Beckett. Dylan ist ständig auf der Flucht vor der Deutungsmeute, die surreale Bilderrätsel wie „Tangled Up In Blue“ oder gar den Mysterien-Marathon „Desolation Row“ ohnehin letztlich nicht dechiffrieren kann.

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Es ist zudem typisch für Dylan, dass gerade unter größten Geburtswehen musikalische Prachtkinder zur Welt kommen. So inspiriert ihn die Trennung von seiner Frau Sara zum Meisterwerk „Blood On The Tracks“. Um Leuchtturmtitel wie „It’s Alright, Ma“ oder „All Along The Watchtower“ sowie „Visions Of Johanna“ gruppiert er in seiner 60-jährigen Karriere eine Großfamilie von rund 600 Songs, deren Rechte er Ende letzten Jahres für 300 Millionen Dollar an Universal verkauft. Eine Summe, in die unzählige Coverversionen von Adele über Cher, Bryan Ferry, Elvis Presley bis zu Neil Young eingepreist sind.

Zudem ist dieser gigantische Fundus der Treibstoff seiner „Never Ending Tour“, die 1988 beginnt und bis Ende 2019 stolze 3066 Konzerte umfasst. Wobei Dylan er selbst die treuesten mitreisenden Fans mit endlos lange nicht mehr gespielten Tracks überraschen kann.

Auch wenn er die Ansprache ans Publikum aufs Notwendigste beschränkt und viele e Songs zernäselt oder vernuschelt: Bob Dylan hat oft bekräftigt, dass die Bühne sein Lieblingsort ist. Dort muss man sich diesen musikalischen Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen, der die Corona-Zwangspause als Höchstrafe empfinden dürfte.

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