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FeldforschungEthnologin Juliane Stückrad untersucht die ostdeutsche Seele

Lesezeit 5 Minuten
Eine Frau bläst am Dienstag (16.08.2005) in Cottbus bei einer CDU-Wahlkundgebung in eine Trillerpfeife.

Anti-Merkel-Proteste in Cottbus.

Eine Feldforschung der Ethnologin Juliane Stückrad in Ostdeutschland berichtet über den Unmut und die Wut in der dort ansässigen Bevölkerung.

Das Studium der Ethnologie und Kunstgeschichte in Leipzig hat sie gerade abgeschlossen, als Juliane Stückrad auf einer Reise durch Peru 2002 feststellen muss, dass es wohl eine Illusion ist, in einem fremden Land etwas „wissenschaftlich Bemerkenswertes“ zu entdecken und Material für ein Stipendium zu sammeln. Also kehrt sie zurück in ihre ostdeutsche Heimat und betreibt dort Feldforschung. Sie lebt sechs Jahre im Elbe-Elster-Kreis, promoviert über die „Kultur des Unmuts im Süden Brandenburgs“, erforscht in Sachsen die Bedeutung der Kirche im ländlichen Raum sowie die Heimatstuben der vorpommerschen Region Uecker-Randow.

Ihre Erfahrungen hat die 1975 geborene Eisenacherin jetzt in ihrem Buch „Die Unmutigen, die Mutigen“ aufgeschrieben. Ein ebenso aufschlussreicher wie authentischer Parforceritt durch die ostdeutsche Provinz.

Politische Haltung des Gegenübers

Eine teilnehmende Beobachtung, die es sich nicht leicht macht, nicht vorschnell zu Schlüssen kommt und doch ein gutes Stück weit die „ostdeutsche Seele“ verstehen hilft.

Schon 2004 erlebt Stückrad auf einer Hartz-IV-Demo im Elbe-Elster-Kreis (in dem die Arbeitslosenquote damals bei 24 Prozent lag) denselben Unmut über die angeblich herrschende „Scheindemokratie“ und wird von Wutbürgern verdächtigt, vom Verfassungsschutz geschickt worden zu sein, wie zehn Jahre später dann bei den ersten Pegida-Kundgebungen in Dresden.

Die Sozialisationstheorie aber, die besagt, die „Menschen aus der DDR täten sich aufgrund ihres Aufwachsens in einem autoritären System so schwer mit der Akzeptanz der Bundesrepublik“, sieht die Ethnologin kritisch. Die frustrierenden Erfahrungen nach dem Mauerfall seien hingegen „eine ebenso prägende Kraft, wie das Leben in der SED-Diktatur für die Herausbildung ostdeutscher Identitäten“ gehabt hätten. Sei die sogenannte „Wende“ für viele Ostbürger doch vor allem mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und dem Abbau von Infrastruktur verbunden gewesen.

Das Schimpfen als Strategie?

Schon in der DDR, so Juliane Stückrad, sei das Schimpfen eine Strategie gewesen, um die politische Haltung des Gegenübers zu erkunden. „Gemeinsames Schimpfen diente somit dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses innerhalb der von Misstrauen geprägten DDR-Gesellschaft“, sagt sie. „Diese Form der Kommunikation scheint den Ostdeutschen so in Fleisch und Blut übergegangen zu sein, dass sie sie mit dem Verschwinden der DDR natürlich nicht automatisch ablegten.“ Sich selbst zum „kleenen, nackschen Mann“ zu stilisieren und auf „die da oben“ zu wettern, schaffe ein Ventil für den eigenen Unmut, berge aber auch die Gefahr, es sich in der Opferrolle bequem zu machen, um keine Verantwortung für das eigene Tun übernehmen zu müssen.

Dieses „Dampfkesselmodell“ schaffe zwar kurzzeitig Erleichterung, verstärke aber langfristig aggressive Impulse. Das Schimpfen werde zur Gewohnheit und präge negativ die Wahrnehmung der Welt. Der Autoaufkleber auf dem Trabant, den Juliane Stückrad im Elbe-Elster-Kreis entdeckt, auf dem zu lesen steht, „Die Welt ist in Ordnung, nur in Deutschland nicht“, sei geradezu ein Sinnbild dafür.

Klischee "Jammerossis"

Klischeehafter lässt sich das Stereotyp des „Jammerossis“ gar nicht verbildlichen. Gern hätte die Wissenschaftlerin den Besitzer des Wagens gefragt, „wo denn bitte schön die Welt in Ordnung sei? Die Terroranschläge des 11. September lagen noch nicht lange zurück. Kriege, Hunger, Flucht, Naturkatastrophen – er schien alles auszublenden, angesichts der Situation, in der er Deutschland sah.“

Das negative Image wird zum Selbstläufer. „Die Konzentration auf die schwierigen Aspekte ostdeutscher Lebenswelten führen häufig dazu, dass die unkomplizierten Alltagspraxen übersehen werden“, konstatiert Stückrad, die bei ihren Feldstudien immer wieder auf Erfolgsgeschichten stieß.

Ob es der Tiefkühlunternehmer im thüringischen Gößnitz ist, dem der westdeutsche Chef gekündigt hat, und der kurzentschlossen sein eigenes Unternehmen gründet. Oder die ehrenamtliche Frau im Leipziger Land , die nach dem Weggang des Pfarrers spürt, dass die Gemeinde Zusammenhalt braucht und Sitzkissen häkelt. So spart sie nicht nur die teure Anschaffung von Sitzauflagen, sondern bereichert durch ihren „Kreativkreis“ auch gleich das Gemeindeleben.

Auch die Zunahme der von Vereinen organisierten Dorffeste im Osten in den vergangenen 30 Jahren sieht Stückrad mit Freude. Sind sie doch ebenso identitätsstiftend wie die Heimatstuben in Mecklenburg-Vorpommern, die nicht selten aus ABM-Maßnahmen der 1990er und 2000er Jahre hervorgegangen sind. „Nicht das Fest ist das Gemeindeleben, sondern die Organisation des Festes“, hört die Ethnologin von der engagierten Kirchenvorsteherin und muss ihr Recht geben. Im Osten wie im Westen. (Welf Grombacher)

Juliane Stückrad: Die Unmutigen, die Mutigen. Feldforschung in der Mitte Deutschlands. Kanon Verlag, 286 S., 24 Euro.


Transparenter Prozess

In der aktuellen Diskussion rund um die Neuausrichtung der Ethnologie und der Museen ist einer der Punkte das Motto „Sprecht nicht ohne uns über uns“. So sollen Ausstellungen zusammen mit Kuratorinnen und Kuratoren aus dem Globalen Süden entstehen. Auch die umgekehrte Richtung wird infrage gestellt: Dürfen Mitteleuropäer im globalen Süden Feldforschung betreiben?

Juliane Stückrad hat bei einem Studienaufenthalt bei den Toba-Indianern in Argentinien ähnliche Erfahrungen gemacht: „Sie haben mir das ganz klar ins Gesicht gesagt: Du kommst hierher, wir erzählen dir alles, und dann fährst du nach Hause und verdienst viel Geld damit“, erzählt sie im Gespräch mit der Rundschau. „Ganz so einfach läuft das natürlich nicht, aber ganz unrecht hatten sie auch nicht. Später konnte ich das nachempfinden: Denn viele westdeutsche Wissenschaftler haben über die Ostdeutschen geschrieben. Und das hat sich ähnlich angefühlt.“ Generell findet Stückrad, dass „das Übersetzen zwischen den Kulturen ein ganz löbliches Ansinnen“ sei. Sie fordert Transparenz über den Prozess, in dem man etwa die Befragten als Autoren nennt. „Denn wir haben in der Begegnung miteinander das Forschungsfeld erschaffen.“