Indiens neuer Hang zur Filmzensur
Mumbai – Ein Mann liegt auf dem Boden eines großen, modern eingerichteten Badezimmers. Nur halb bei Bewusstsein, versucht er mühsam, sich aufzurichten. Verwirrt blickt er in seine eigene leere Hand.
In brüchigem Englisch spricht eine Stimme im Hintergrund von Drogenmissbrauch. „Wenn das nicht aufhört, wird Punjab bald wie Mexiko”, sagt sie.
Der Filmtrailer zum neuen Bollywood-Film „Udta Punjab” (Fliegendes Punjab) beginnt düster. Er beschäftigt sich mit dem indischen Bundesstaat Punjab und seinen Drogenproblemen. Dass es diese gibt, ist kaum umstritten. Dass sie aber auch gezeigt werden dürfen, ist auch im Indien des Jahr 2016 nicht selbstverständlich.
Am Montag hat ein Gericht in Mumbai (früher Bombay) in letzter Sekunde verhindert, dass „Udta Punjab” nur extrem gekürzt in die Kinos kommen durfte. Den Produzenten zufolge hatte das Central Board of Film Certification (CBFC) verlangt, dass an nicht weniger als 89 Stellen die Schere angesetzt wird. Flüche und Drogenkonsum sollten verschwinden. Angeblich auch der Name „Punjab”. Aus fast allen Dialogen - und aus dem Titel.
Der Fall hat auch eine politische Dimension. Im kommenden Jahr stehen in Punjab Wahlen an. Die Opposition setzt im Wahlkampf auf das Drogenthema. Die aktuelle Regierung des Bundesstaats will jedoch davon möglichst wenig wissen. Zur Koalition gehört die Partei BJP, die zurzeit auch die Zentralregierung Indiens stellt. Kritiker werfen dem CBFC deshalb vor, in ihrem Auftrag Wahlkampf zu betreiben und das Drogenthema von der Öffentlichkeit fernhalten zu wollen.
Das CBFC - übersetzt „zentraler Ausschuss für die Zertifizierung von Filmen” - hat in Indien die Macht, über Sein und Nichtsein von Filmen zu entscheiden. Ohne seine Zustimmung kann keine Produktion in den indischen Kinos laufen. Zuletzt waren von dort einige liberale Tendenzen zu erkennen. Doch seit die Regierung von Premierminister Narendra Modi im Januar 2015 den Hardliner Pahlaj Nihalani zu seinem Chef machte, wird die Uhr wieder zurückgedreht.
Seit Nihalani am Ruder des CBFC steht, sind in indischen Kinos kaum noch Schimpfworte zu hören. Selbst Ausdrücke wie das Wort „lesbisch” sind den Zertifizierern inzwischen zu kräftig und verschwinden kommentarlos aus den indischen Versionen auch internationaler Filme.
Auch der jüngste James-Bond-Film „Spectre” löste in Indien große Diskussionen rund um das CBFC aus. Das Gremium fand unter Anderem eine Kussszene zu intensiv und kürzte sie radikal ein. Die Zuschauer reagierten mit Sarkasmus: Unter dem Hashtag „SanskariJamesBond” (der redliche James Bond) machten Twitter-Nutzer sich über die Prüderie des CBFC lustig.
„Es fühlt sich ein wenig an, als würden wir ins dunkle Mittelalter zurückkehren”, sagt Filmkritikerin Shubhra Gupta, die selbst bis Anfang 2015 im CBFC saß. „Die Richtlinien des CBFC stammen aus den 1950ern und müssen in der heutigen Gesellschaft deutlich liberaler ausgelegt werden, als sie damals aufgeschrieben wurden. Ich war immer dafür, die Freiheit von Filmemachern möglichst wenig einzuschränken.”
Von dieser Position ist das heutige CBFC weit entfernt. „Geht es nach dem Film 'Udta Punjab', sind 70 Prozent der Jugendlichen in dem Bundesstaat drogenabhängig”, sagte CBFC-Chef Nihalani der indischen Zeitung „Hindustan Times”. „Wir konnten nicht erlauben, dass Punjab auf diese Weise verrissen wird.” Zudem widersprach er der Darstellung der Filmproduzenten. Statt der behaupteten 89 Schnitte habe man lediglich 13 verlangt und den Film ansonsten freigegeben.
Doch selbst dazu kommt es nun nicht. Zum ersten Mal seit dem Amtsantritt von Nihalani hat eine Gruppe Produzenten den Zensurkampf nicht mit dem CBFC selbst ausgefochten, sondern ein Gericht angerufen. Und der Bombay High Court hat klar entschieden. Das oberste Gericht der Stadt Mumbai, wo die meisten Bollywood-Filme produziert werden, hat die Kürzungsliste des CBFC radikal gekürzt - auf einen einzigen Schnitt. „Die Schnitte hätten den Film bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt”, zitierte die Zeitung DNA einen der Richter.
Was das für die künftige Politik des CBFC bedeutet, ist noch unklar. Der Ausschuss teilte lediglich mit, er werde sich in diesem Fall dem Urteil fügen. Ankläger-Anwalt Ameet Naik bezeichnete das Urteil hingegen als wichtigen Schritt, um aus Zensoren wieder Zertifizierer zu machen: „Die Entscheidung rehabilitiert Indiens Demokratie und Grundrechte”, sagte er nach der Verkündung. (dpa)