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Interview mit Agatha Christies Urenkel„Sie verstand die menschliche Natur, wie nur wenige“

Lesezeit 6 Minuten
Agatha Christie sitzt auf einer Reling

Agatha Christie in 1922

Seine Urgroßmutter ist die berühmteste Krimiautorin der Welt: Agatha Christie. Im Rundschau-Gespräch erzählt JamesPrichard von ihren Marotten und Kenneth Brannaghs drittem Poirot-Film „A Haunting in Venice“, der Donnerstag ins Kino kommt.

Sie sind 1970 geboren, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Urgroßmutter? Gibt es eine Familienanekdote über sie, die sie besonders mögen?

Ich verbrachte viel Zeit bei ihr, vor allem in ihrem Haus in Devon. Und ich erinnere mich an den Tag, als sie starb, ich war fünf oder sechs: Ihr Tod war der Aufmacher in den 18-Uhr-Nachrichten. Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass sie jemand ganz Besonderes war.

Ich habe das Glück, dass meine Großmutter, ihre Tochter Rosalind, erst 2004 starb. Auch ihr Sohn, mein Vater, lebt noch. So kenne ich viele Anekdoten, die sie mir erzählen konnten. Mein Vater sagt zum Beispiel, dass Agatha eine der besten Zuhörerinnen war. Das ist vielleicht auch der Schlüssel zu ihren Geschichten: Dadurch, dass sie Menschen unheimlich gut zuhörte, verstand sie sie auch sehr gut. Sie verstand die menschliche Natur in einer Art und Weise, wie es nur wenige tun.

Wer ist Agatha Christie für Sie heute?

Ich habe verschiedene Versionen von ihr in meinem Kopf. Da ist zunächst die Ikone, die Autorin. Und dann ist da der Familienmensch. Wir nannten sie Neema – das war der Versuch meines Vaters, das Wort Grandma auszusprechen, als er ein Kind war. Agatha Christie und Neema sind für mich zwei ganz unterschiedliche Personen. Sie war eine sehr zurückhaltende, schüchterne Person, sie liebte es an einem Tisch mit Familie und Freunden zu sitzen.

Aber sie hat auch davon profitiert, in einer Zeit zu leben und zu arbeiten, in der sie sehr produktiv sein konnte: Statt sechs Monate auf Werbetour zu gehen oder in den Sozialen Medien aktiv sein zu müssen, hat sie manchmal bis zu drei oder vier Bücher im Jahr geschrieben. Das wäre für Autoren heute unmöglich.

Was war Ihr erster Kontakt mit dem Werk Ihrer Urgroßmutter?

Das erste Buch war „Tod auf dem Nil“, als ich neun war. Und aus irgendeinem Grund dachte ich, ich müsste das hinter dem Rücken meiner Eltern tun. Und ich erinnere mich noch genau, wie ich die letzten Seiten gelesen habe: früh am morgen, beim ersten Tageslicht, ohne eine Lampe anzumachen, damit meine Eltern es nicht mitbekommen. Denn ich hatte das Gefühl, so hätte ich noch die Chance, es zurück ins Regal zu stellen, ohne dass sie es merken. Warum ich dachte, ich bekäme Ärger, wenn ich die Bücher meiner Urgroßmutter lese – ich weiß es nicht! (lacht)

Kenneth Brannagh als Hercule Poirot.

Kenneth Brannagh als Hercule Poirot.

Hat Sie Familienmitglieder oder Bekannte in ihren Büchern verarbeitet?

Sie hat zumindest niemanden komplett in ihre Bücher übernommen, aber Aspekte von Menschen. So lauschte sie gerne in Cafés bei Gesprächen am Nachbartisch und verwendete manchmal Teile davon.

Wie kam es, dass die Geschichte des Romans „Hallo'ween Party“ für den Film von einem englischen Landhaus in einen venezianischen Palast verlegt wurde?

Vor zwei Jahren schlugen mit Kenneth Brannagh und Drehbuchautor Michael Green vor, nach zwei klassischen Verfilmungen es jetzt etwas anders anzugehen. Michael wollte sich mehr am Horror-Genre orientieren, um einen anderen Ton zu erzeugen. Und warum es Venedig wurde? Zum einen braucht man bei einem großen Hollywood-Film einen wunderschönen Hintergrund, und das stellt Venedig en masse zur Verfügung. Zum anderen hat die Stadt eine besondere Atmosphäre: etwas mystisch, etwas mysteriös. Im Film wird die Stadt fast zu einer zusätzlichen Figur der Geschichte, die zur Angst und zum Horror, den die anderen Figuren im Palazzo erleben, beiträgt.

Worin besteht Ihre Aufgabe als Geschäftsführer von Agatha Christie Limited?

Sie hat die Firma selber 1955 gegründet. Wir sind ein Team von 15 Leuten und betreuen alle Veröffentlichungen, alle Theaterstücke, alle Filme, TV-Versionen, Computerspiele – überall auf der Welt. Dadurch haben wir nicht nur das Privileg, mit einem großartigen Werk zu arbeiten, sondern auch mit einigen der Besten in den verschiedenen Bereichen.

Wie weit darf sich eine Adaption vom Original entfernen, so dass „Agatha Christie Limited“ dem noch zustimmt?

Wenn sich ein Film zu sehr an die Vorlage hält, kann es durchaus passieren, dass es schiefläuft. Meine Urgroßmutter etwa mochte die ersten Bühnenadaptionen ihrer Geschichten nicht. Für sie gingen die Autoren dabei nicht radikal genug vor. Denn um sich von einem Medium zum anderen zu bewegen, muss man radikale Veränderungen vornehmen. Und wir haben mit Kenneth Brannagh und Michael Green so gute Erfahrungen gemacht, dass wir wussten, dass wir ihnen vertrauen können. Für uns muss sich eine Adaption anfühlen wie eine „Agatha Christie Erfahrung“ – und dieser Film fühlt sich genau danach an. Es gibt neue Elemente, aber im Kern bleibt es eine Krimigeschichte.

Warum funktionieren die Bücher heute noch?

Sie war genial darin, Geschichte zu erzählen und Plots zu erfinden. Und das Gute an gut erzählten Geschichten und tollen Plots ist: Sie überdauern die Zeiten. Sie funktionieren in Übersetzung, überall auf der Welt.

Es gibt viele internationale Adaptionen, Serien in Frankreich, Schweden oder in Asien.

Das macht Spaß und ist irgendwie befreiend. Manchmal machen wir in diesen Fassungen Dinge, die wir in englischsprachigen Adaptionen nicht wagen würden – die vielleicht manchmal etwas durchgeknallter sind. So etwa bei einer TV-Verfilmung in Südkorea, die wir so sicherlich nicht in England gemacht hätten. (lacht)

Mit Ariadne Oliver haben wir eine Figur, die in einigen Poirot-Geschichten vorkommt und von der Agatha Christie gesagt hat, sie ähnle ihr in Teilen. Wo sehen Sie Ihre Urgroßmutter in dieser Figur?

Der Spaß bei Ariadne Oliver ist, dass niemand so genau weiß, wie viel Agatha Christie von sich in ihr verarbeitet hat. Aber sie hat sicherlich gerne mit den verschiedenen Teilen gespielt. Vielleicht hat sie Ariadne erlaubt, Dinge zu sagen, die sie selber gerne gesagt hätte, aber sich nicht getraut hat. Ariadne ist extravagant und auffällig – meine Urgroßmutter war nichts davon.

Warum ist Kenneth Brannagh der Richtige für die neuen Verfilmungen?

Er hat den Intellekt von der Größe eines kleinen Planeten, und er hat großen Respekt für die Arbeit meiner Urgroßmutter. Dazu verfügt er über eine Energie, die ich außergewöhnlich finde. All das bringt er in diese Projekte ein. Es gibt nicht viele, die alles gleichzeitig machen: Regisseur, Produzent, Hauptdarsteller – er ist in fast allen Szenen dieses Films. Er ist einfach einer der talentiertesten Leute in diesem Geschäft.

Wird er die Rolle noch einmal spielen?

Man muss kein Genie sein, um sich auszurechnen, dass wir diese Filme lieben, er ein großartiger Schauspieler ist und seine Verkörperung von Poirot hat großes Potenzial für mehr. Aber ich möchte nicht vorauspreschen oder gar das Schicksal herausfordern. (grinst)


Eine eigene Firma

Eine Frau mit Geschäftssinn: 1955 gründete Agatha Christie (1890−1976) eine Firma, die sich seitdem um die Lizenzen ihrer 66 Romane sowie Kurzgeschichten und Theaterstücke kümmert. James Prichard (Foto) ist heute Geschäftsführer von „Agatha Christie Limited“. Sein Vater ist der Sohn von Agatha Christies Tochter Rosalind.

James Prichard

James Prichard

„A Haunting in Venice“ ist nach „Mord im Orient-Express“ und „Tod auf dem Nil“, Kenneth Brannaghs dritter Film, in dem er den Detective Hercule Poirot verkörpert. Vorlage ist der Roman „Hallowe'en-Party“, der 1969 veröffentlicht wurde und dessen erste deutsche Fassung mit dem Titel „Die Schneewittchen-Party“ aus dem Jahr 1971 stammt. Seit geraumer Zeit bringt der Atlantik Verlag neue Übersetzungen heraus, nun heißt das Buch „A Haunting in Venice – Die Halloween-Party“ (256 S., 14 Euro). (HLL)