Interview mit Berlinale-Chef„Die Zukunft von Filmfestivals kann nicht online sein“

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  • Am 10. Februar beginnt die diesjährige Ausgabe der Berlinale.
  • Dieter Oßwald sprach mit Carlo Chatrian, dem künstlerischen Leiter des Festivals.

Im diesjährigen Programm geht es viel um Liebe. Zudem gibt es reichlich Wald. Sind solche rote Fäden eher Zufall oder halten Sie danach Ausschau?

Es gibt viel Liebe und viel Wald auf dieser Berlinale. Allerdings halten wir bei der Auswahl nicht Ausschau nach Themenschwerpunkten. Erst beim fertigen Programm stellen sich Zusammenhänge unter Filmen heraus. Wenn man ein ganzes Jahr lang sichtet, wäre es völlig unmöglich, dabei einen roten Faden vorzugeben. Gutes Kino kommt ohnehin ohne Zeigefinger aus.

Ergibt sich ein Frauenanteil von selbst oder wird er proaktiv gefördert?

Doppelspitze

Die diesjährige Ausgabe der Berlinale findet vom 10. bis 20. Februar statt. Der 1971 geborene Carlo Chatrian (Foto) ist seit 2019 künstlerischer Leiter. Mariette Rissenbeek, Jahrgang 1956, ist Geschäftsführerin – gemeinsam bilden sie die erste Doppelspitze in der mehr als 70-jährigen Geschichte des Festivals, das zu den wichtigsten in der Branche zählt. (EB)

Für die Berlinale gibt es keine Quote. Wenn ich einen Film anschaue, ist mir die sexuelle Identität von Filmschaffenden gleichgültig. Mir geht es bei der Auswahl um die Stärke, die Originalität und die Überraschungskraft. In einigen Jahren wir haben viele Frauen im Programm und das gefällt mir gut. Auch dieser Jahrgang ist ziemlich stark, wenngleich durchaus mehr möglich wäre.

Schauspielerin Bai Ling sorgte 2006 als „Berlinackte“ auf dem Roten Teppich für Furore. In diesem Jahr zieht Oscar-Preisträgerin Emma Thompson auf der Leinwand blank. Rechnen Sie mit einem Skandälchen?

Nein, da erwarte ich keinen Skandal, sondern großen Applaus! In „Good Luck to You, Leo Grande“ geht es zwar um Sex, noch viel mehr jedoch geht es um das Abschütteln von selbst auferlegten Fesseln. Als Witwe begegnet Emma Thompson einem charmantem Gigolo, der ihr die Augen für das Leben öffnet. Am Ende zeigt sich Emma vollkommen nackt und präsentiert mit Stolz den schönen Körper einer älteren Frau – ich glaube jedoch nicht, dass sie das auf dem Roten Teppich wiederholen wird! (Lacht)

Um Sex und Schönheit geht es bei Rainer Werner Fassbinder und François Ozon gleichermaßen. Welche Bedeutung hat es, wenn zur Eröffnung ein Fassbinder vom Franzosen Ozon adaptiert wird?

„Peter von Kant“ ist eine schöne Verneigung von Ozon vor seinem Idol Fassbinder. Sein Film bietet viel Humor, schließlich nahm Fassbinder sich selbst nie besonders ernst. Es geht um Liebe, Leidenschaft und Lügen. Sowie um große Gefühle und Glamour. Also genau all das, was Kino ausmacht. Komik, Charme und Leichtigkeit machen daraus einen perfekten Eröffnungsfilm.

Charme besitzt allemal Sigourney Weaver. Ihr Film „Call Jane“ hat jedoch den Makel, dass er beim Festival-Rivalen Sundance seine Premiere feierte. Exklusivität galt stets als Sakrileg für A-Festivals. Sollte man endlich Abschied nehmen von solch angestaubten Eitelkeiten?

Für „Boyhood“ bekam Richard Linklater 2014 den Silbernen Bären, obwohl der Film zuvor in Sundance lief. Das ist das beste Beispiel dafür, dass man mit guten Filmen ein gutes Festival unterstützten kann – und umgekehrt. „Call Jane“ passt mit seinem feministischen Blick auf die Politik perfekt in unser Programm. Ich habe absolut kein Problem mit Exklusivität.

Überkommt Sie bisweilen die Angst, etwas verpasst zu haben? Ihr Vorgänger hatte das Potenzial von „Das Leben der anderen“ nicht erkannt. Ganz konkret: Weshalb findet sich „Die Wannseekonferenz“ nicht im Programm, die unisono gefeiert wurde?

„Die Wannseekonferenz“ wurde für die Berlinale nicht eingereicht. Bei anderen deutschen Produktionen stellte sich das Problem, dass sie einfach noch nicht fertig waren. Corona hatte auch hier einige Striche durch die Rechnung gemacht. Es gab mehrere Kandidaten mit dem Potenzial für den Wettbewerb oder Berlinale Special Gala, aber die waren einfach noch nicht fertig. Klar machen Festivalleiter ihre Fehler – wir sind schließlich auch nur Menschen.

Manche behaupten, es sei ein Fehler, die Berlinale in Pandemie-Zeiten überhaupt als Präsenz-Festival stattfinden zu lassen…

Ich verstehe die Bedenken. Wir haben mit den Behörden ein sehr umfangreiches Hygiene- und Sicherkeitskonzept besprochen, das ein möglichst sicheres Festival erlaubt. Dabei stand immer fest, dass die Filmemacher und Produzenten unbedingt mit ihren Filmen in die Kinos wollten. Als Online-Ausgabe wie im Vorjahr hätten wir die Hälfte der Wettbewerbsfilme verloren. Wir werden mit diesem Virus noch lange leben müssen. Und die Zukunft von Filmfestivals kann nicht online sein. Festivals brauchen den Austausch von Zuschauern und Künstlern.

Die Berlinale möchte mit einem Paukenschlag zeigen, dass Kino wieder machbar ist. Weshalb machen Sie dann dennoch den Filmmarkt nur online? Weshalb sollen dreifach geimpfte Journalisten täglich einen Test vorlegen? Ein verheerenderes Signal kann es kaum geben.

Nach Rücksprache mit den Behörden haben wir auf eine Präsenzveranstaltung des Filmmarktes verzichtet, weil zu viele Menschen sich unkontrollierbar in einem riesigen Messegebäude getroffen hätten. Der verpflichtende Test für Journalisten wurde von unserer Sicherheitsabteilung so beschlossen. Dies gilt aber nicht nur für Medienvertreter, sondern auch für Gäste und Mitarbeiter des Festivals.

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