Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Interview mit Wladimir Kaminer„Putin kann diesen Krieg nicht gewinnen“

Lesezeit 6 Minuten
Kaminer_Zintel

Wladimir Kaminer

  1. Wladimir Kaminer ist seit Jahrzehnten für seine scharfe und humorvolle Beobachtungsgabe bekannt.
  2. Dieser Tage ist er im Dauereinsatz, um sich gegen den Krieg in der Ukraine einzusetzen.
  3. Mit Axel Hill sprach er über Ursachen und Ausweg aus der Krise.

Wie kommt es, dass wir hier in Deutschland so überrascht darüber sind, dass es zu diesem Angriff gekommen ist?

Mein sehr starkes Gefühl sagt mir, dass alle überrascht sind, dass es zu diesem Krieg gekommen ist. Die Generalität war überrascht, die russischen Eliten, die Oligarchen auf der Forbes-Liste, die russische Bevölkerung sowieso – und die ganze Welt. Ich glaube, dass wir es tatsächlich mit der Entscheidung eines einzelnen Mannes zu tun haben. Man kann jetzt sehen, was das für Folgen haben kann, wenn eine Person alle Macht in einer Hand hat – er ist ja gleichzeitig auch der oberste Befehlshaber der Armee, der Flotte.

Wie ist er darauf gekommen, die Ukraine zu überfallen?

Zur Person

Der gebürtige Moskauer (Jahrgang 1967) kam 1990 nach Deutschland. Sein erstes Buch „Russendisko“ wurde 2002 veröffentlicht und ein großer Erfolg. Im letzten Jahr erschien „Der verlorene Sommer – Deutschland raucht auf dem Balkon“. (EB)

Jetzt wird ja viel gesagt, dass der russische Präsident falsch beraten wurde, dass er die Information hatte, dass das ukrainische Volk ihn in Wahrheit mag, und nur durch den Einfluss des Westens und einer vom Westen eingesetzten Regierung, sich nicht mit Russland vereinen möchte. Aber man hat auch viele Bilder aus Russland gesehen, die nicht mit dieser Weltsicht übereinstimmen.

Ich glaube, das ist ein Traum von Putin. Auch das, was er die ganze Zeit erzählte, dass es die Ukraine nie gab, dass das Land 1922 von Wladimir Lenin ausgedacht worden ist. Dass Russen und Ukrainer das gleiche Volk sind. Diesen Traum hat er verwechselt mit der Realität. Und ist voll auf die Nase gefallen. Denn niemand hat ernsthaft noch vor zwei Wochen mit dem Untergang dieses Regimes gerechnet. Jetzt sieht es so aus, dass er sich selbst eine globale Niederlage kreiert hat – aus dem Nichts. In Russland reiben sich alle Politologen die Augen.

Weil es letztlich keinen Sinn ergibt, in die Ukraine einzumarschieren? Putin hat keinen Vorteil daraus?

Er kann diesen Krieg nicht gewinnen. Er kann 40 Millionen Menschen nicht zwingen, ihn zu lieben, wenn sie ihn hassen. Es ist ganz egal, wie lange der Sprit für seine Panzer noch ausreicht – zwei, oder oder meinetwegen auch vier Tage: Es wird sich nichts ändern. Es wird trotzdem geschossen, wenn nicht an der Front, dann in den Rücken. Und die Sanktionen, die Russland bekommen hat, sind beispiellos in der Geschichte der Menschheit. Russische Finanzeliten, die Wirtschaftsweisen haben natürlich alle möglichen Pläne durchgerechnet. Aber mit dem, was jetzt gekommen ist, haben sie nicht gerechnet. Das ist eine Blockade, mit der zu keiner Zeit hinter dem eisernen Vorhang, in der Sowjetunion zu rechnen war. Und die Sanktionen sind mit einem Fortbestehen des Landes nicht zu vereinbaren.

Wie kann Russland aus diesem Dilemma herauskommen?

Um es kurz zu machen: nur ohne Putin, ohne dieses Regime. Wie es umgesetzt werden kann, möchte ich meinen Landsleuten dort überlassen. Aber klar ist, dass sie mit Putin nicht weiter funktionieren.

Warum kann sich Putin jetzt schon so lange halten? Was ist das in „den Russen“, die ihn gewählt haben? Es gab nicht viele Alternative, aber dennoch...

Es war ja nicht immer der gleich Putin. Er war auch ein Mann von Welt, der durchaus liberale Ansichten vertrat. Putin war auch mal ein Reformer. Die Sensibilisierung für Gewalt, die abwertende Haltung jeder Kritik gegenüber kam langsam, Schritt für Schritt. Der Deal zwischen dem Volk und der Regierung war zunächst, dass sie sich nicht gegenseitig in die Angelegenheiten des anderen einmischen. Dass die Menschen ihr Leben leben und vom Staat nicht sonderlich belästigt werden. Dafür darf das Staatsoberhaupt immer der selbe sein.

Wie ist es zu diesem „Deal“ gekommen?

Die Russen waren sehr frustriert dem politischen Geschäft gegenüber und hatten eine große Gleichgültigkeit entwickelt. Egal, wer im Kreml sitzt, es würde sich nichts ändern. Die Politikverdrossenheit kennen wir auch im Westen: Hier wird ja auch ständig darüber gesprochen, das Parteien ihre Wahlprogramme nicht einhalten. Aber hier streiten die Parteien darüber und wechseln einander ab. Das ist der Vorteil dieses Systems: der Austausch des politischen Personals.

Und Putin?

Er ist 70 und ist seit 22 Jahren in Russland abgeschottet von der Welt. Er lebt sein eigenes Leben, seine eigene Sicherheit hat oberste Priorität. Sehr wenige Menschen wissen, wo er ist, was er macht und mit wem er lebt. In dieser Isolation hat er eine vollkommen abwegige Sicht auf die Welt entwickelt. Und jetzt verwechselt er seine Wunschwelt mit der Realität da draußen. Und deshalb sterben zehntausende Menschen.

Es gibt ja den Spruch „Der Zar ist weit weg in Moskau“. Ist die schiere Größe des Landes nicht auch ein Problem, was vieles so irreal werden lässt?

Das auch, so ein großes Land ist schwer zu verwalten – und noch mehr, wenn es nur aus einer Hand verwaltet wird.

Und ist er nicht für jemanden, der am anderen Ende des Landes lebt, sowieso weniger real?

Ja, und zur Zeit ist er noch irrealer geworden: Ich glaube, er versteckt sich. Niemand weiß, wo er ist – außer abgezählte Leute, aber von denen weiß man auch nicht, wo sie sind. Es ist erstaunlich still geworden im Kreml. Während die Armee weiter die Ukraine vernichtet. Es ist ein großes Drama, aber auch eine spannende Geschichte, wie es jetzt mit Russland weitergeht.

Was sollte der Westen, die Nato, die EU im Moment tun?

Jede erdenkliche Unterstützung für die Ukraine – und weiter versuchen, einen Waffenstillstand zu erzielen. Es muss ein humanitärer Korridor geschaffen werden, damit Frauen, Kinder, Alte und Verletzte das Land verlassen können. Den Geflüchteten helfen. Und abwarten.

Abwarten?

Ja, denn diesen Krieg führt Russland mit sich selbst. Es ist im Grunde genommen eine tragisch-komische Situation: Russland hat sich selbst besiegt in einem Angriffskrieg. Viel mehr muss und kann man auch gar nicht machen. Das Regime hat keinen Rückwärtsgang, es ist voll gegen die Wand gefahren. Spätestens Ende März stehen in Russland alle Betriebe still, da diese Wirtschaft unter diesen Sanktionen nicht funktionieren kann.

Was für eine Rolle spielt in diesem Zusammenspiel die russisch-orthodoxe Kirche?

Sie hat sich als eine Abteilung des Staates, als eine Abteilung des Sicherheitsdienstes gezeigt. Der ukrainische Patriarch nannte diesen Bruderkrieg Kainsmal. Und damit hat er natürlich recht. Dieses Kainsmal wird sehr schwer abzuwaschen sein. Irgendwann wird das passieren, da bin ich mir sicher. Die Kloake, in die Russland vor den Augen der Welt gefallen ist, ist tief.

Wie sehen Sie, was gerade mit Künstlern wie Valery Gergiev oder Anna Netrebko passiert?

Putin ist für mich ein Anti-Midas.

In Bezug auf den mythischen König, bei dem alles, was er anfasste zu Gold wurde?

Und Putin verwandelt alles in Sche... sogar Künstler und die Kunst. Ich weiß nicht, wie Gergiev oder Anna Netrebko sich reinwaschen können, wenn sie dieses Regime unterstützen. In guten Zeiten kann man Gut und Böse nicht immer auseinanderhalten. Aber jetzt haben wir so ein klares Schwarz-und-Weiß-Bild vor Augen, dass niemand sich neutral halten kann. Denn es ist kein Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen die freie Welt. Die Ukrainer kämpfen für uns!