KunstausstellungAuf der documenta gibt es unsichtbare Kunst

Der Künstler Ryan Gander gestaltete einen Raum, durch den lediglich eine leichte Brise weht.
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Kassel – Riesige, weiß gestrichene Flächen, mehr nicht. Die Eingangsräume im Erdgeschoss der Kasseler Kunsthalle Fridericianum, dem Herzstück der Kunstausstellung documenta (13), sind nahezu leer. Nur ein Windhauch zieht durch das Gebäude. Das soll Kunst sein? Ja! Was sich anfühlt, als habe jemand ein Fenster offen gelassen, ist ein Kunstwerk - geschaffen vom Engländer Ryan Gander.
Seit der Eröffnung der weltweit wichtigsten Ausstellung für moderne Kunst am 9. Juni schauen sich Besucher, die geduldig die Warteschlage vor dem Museum hinter sich gelassen haben, verwundert um. Sie suchen nach dem Ursprung der „leichten Brise“, wie Gander sein Werk beschreibt. Seine Arbeiten sind oft unsichtbar für den Betrachter. Minimale Eingriffe in den Raum, die aber Erstaunen bei den Menschen auslösen, aber nicht alle sind begeistert. „Schön bescheuert ist das! Der Luftzug als Kunst - Schwachsinn hoch zehn“, hatte Besucherin Brigitte Schneider-Lombard aus Celle schon am Eröffnungswochenende geschimpft.
Nur wenige Meter vom Friedrichsplatz entfernt gibt's Kunst beim Shopping: Für Gabriel Lesters Werk „Kaufhaus Incidentals“ sollten die Kunden allerdings genau hinhören. Statt wummernder Popmusik, die gewöhnlich in Modehäusern erklingt, sind es leise Klavierklänge. Ruhige Melodien - ganz und gar gegensätzlich zum hektischen Einkaufstreiben.
Der Künstler hat Sequenzen aus Stummfilmen, die einst das Nachdenken der Schauspieler untermalen sollten, neu arrangiert. Ob das auch zwischen Kleiderständern und Kassenschlangen gelingt, scheint fraglich. „Gerade die melancholischen Passagen des Stücks empfinden manche Kunden nach einer Weile als anstrengend“, sagt Sabine-Amelie Alt, Geschäftsleiterin des Modehauses. Allerdings kämen viele Besucher kommen gezielt, um sich die Musik anzuhören. Menschen, die das Kunstwerk eher zufällig beim Bummeln wahrnehmen, erlebten es meist als angenehme „Berieselung“.
Dass Susan Philipsz' Klanginstallation im Kulturbahnhof überhört wird, ist unwahrscheinlich. Auf den Bahnsteigen ertönen Streicherklänge - eine ergreifende, melancholische Melodie, der man sich nicht entziehen kann. Geschrieben wurde diese „Studie für Streichorchester“ 1943 vom jüdischen Komponisten Pavel Haas, während er im Konzentrationslager Theresienstadt war. Ein Jahr später kam er in Auschwitz ums Leben.
Die schottische Künstlerin, die vor zwei Jahren mit dem renommierten Turner-Preis ausgezeichnet wurde, greift das Thema der documenta auf: „Zusammenbruch und Wiederaufbau“, denn sie stellt mit ihrer Arbeit einen verstörenden Bezug zum Ort her. Die sieben Lautsprecher sind nämlich an jenen Kasseler Bahngleisen installiert, von denen 1941 und 1942 Juden nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert wurden. Es ist eine akustische Reise in ein dunkles Kapitel, die jedoch auch etwas Heilendes hat: Haas' Komposition erklingt viele Jahre nach dessen Tod und verleiht ihm so Gehör.
„Wie die Künstlerin mit so einfachen Mitteln eine Wirkung erzielt, ist beeindruckend“, findet documenta-Besucherin Jutta Bohnen aus Kassel. Im ersten Moment habe sie die Musik als irritierend empfunden. Nachdem sie mehr über die Hintergründe des Werks erfahren habe, sei sie tief bewegt. „Dort zu stehen, wo einst Juden deportiert wurden, macht einen sprachlos.“
(dpa)