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Lesung in KölnWladimir Kaminer erklärt die Welt – von Schuldgefühl bis Gendern

Lesezeit 3 Minuten
Wladimir Kaminer bei seinem Auftritt im „Gloria“. Dort liest er aus seinem neuen Buch „Wie sage ich es meiner Mutter - Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel“.

Wladimir Kaminer bei seinem Auftritt im „Gloria“. Dort liest er aus seinem neuen Buch „Wie sage ich es meiner Mutter - Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel“. 

Im Gloria-Theater liest Wladimir Kaminer aus seinem neuen Buch „Wie sage ich es meiner Mutter“ und erklärt die Welt vom Gendersternchen bis zum Bio-Siegel. In 21 Kapiteln spielt er mit gegensätzlichen Welt(untergangs)-Anschauungen.

In der Pause steht er im Foyer, am Tisch, auf dem seine, geschätzt, 50 Bücher liegen (in Wirklichkeit sind es weniger), umringt von seinen Bewunderern und Bewunderinnen (von letzteren gibt es deutlich mehr). Die eine Hand hält ein Glas Weißwein, die andere wischt auf dem Handy herum.

Überentwickeltes Umweltbewusstsein

„Jetzt zeigt er ihnen das Bild mit der brütenden Amsel im Aschenbecher“, denkt man. Weil er das ja vorher versprochen hat. Vor der Pause, als Wladimir Kaminer im ausverkauften Gloria das hingerissene Fan-Volk eine Stunde lang mitten hinein in „Wie sage ich es meiner Mutter“ katapultierte. Wovon das neue Buch des Vielschreibers und „letzten ansprechbaren Russen“ (Kaminer über Kaminer) handelt, verrät der Untertitel „Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel“.

Diejenige, die Erklärungsbedarf hat, heißt Shanna Kaminer und ist inzwischen 91 Jahre alt. Die Welt, die es zu verstehen gilt, ist die von Nicole Kaminer (26) und deren zwei Jahre jüngerem Bruder Sebastian. Doch das „überentwickelte Umweltbewusstsein“, das beide an den Tag legen, ist nicht bloß Enkel-Empfindsamkeit: „Die Schuldgefühle der Natur gegenüber und die Angst, noch mehr kaputtzumachen, traf alle Altersgruppen außer der leichtsinnigen Generation achtzig plus, die einfach weiter unbeschwert vor sich hinlebte.

Sie wusste, wie schnell achtzig Jahre vorbeiflutschen, und lehnte die Aufforderung ab, den Planeten zu retten.“

In 21 Kapiteln spielt Kaminer mit diesen gegensätzlichen Welt(untergangs)-Anschauungen. Wie in „Ökologische Gerechtigkeit auf dem Raucherbalkon“, wo sich ein „frecher Vogel“, die eingangs erwähnte Amsel, ausgerechnet den großen Aschenbecher in der Nikotin-Oase der Familie aussucht, um ihn als Krippe zweckzuentfremden. So, als wolle er sagen: „Rauchen tötet. Ab jetzt wird hier nicht mehr gequalmt. Wir wollen nämlich neues Leben aus eurer alten Asche entstehen lassen, hier in diesem Aschenbecher.“

Elektrische Fliegenklatsche

Aber wie soll der Autor begründen, dass es das ökologische Gleichgewicht stört, wenn seine Mutter die Küken der Aschenbecherbesetzer mit Fliegen füttert, die sie mit der Elektroklatsche getötet hat: „Gefühlt stand sie doch perfekt im Einklang mit dem Zeitgeist: Man kochte inzwischen elektrisch, fuhr elektrisch Fahrrad, warum also sollte man nicht auch Fliegen elektrisch erledigen und die lästigen Fliegen aus der Biotonne mit einer Bioklatsche verfolgen?“

Allein schon diese Geschichten zu lesen (deren Protagonisten, nebst Katzen, Küchen, Freundinnen, Freunden und Verwandten man allesamt kennt) ist vergnüglich. Dabei zu sein, wie Kaminer sie vorträgt oder aus dem Gedächtnis erzählt, noch viel vergnüglicher. „Die Buchstaben werden jedes Jahr kleiner. Sie wollen Papier sparen, glaube ich“, wundert er sich. Um sodann die Lesebrille hervorzukramen und umständlich zu putzen.

Hinter all diese Vergnüglichkeit steckt ein hellwacher Geist. Und die Kaminers, so lieb man sie auch gewonnen haben mag, sind nicht die Waltons. Eine Welt, in der „statt Sandmännchen Karel Lauterbach“ das Gute-Nacht-Sagen übernahm, die „Sterbehilfe nur für Geimpfte und Genesene“ in Erwägung zieht und die Einführung des „Gut-Russen-Pass“ zur Unterscheidung von Putin-Freunden und Kriegsgegnern, ist keine heile Welt.

Wladimir Kaminer: Wie sage ich es meiner Mutter. Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel. Wunderraum, 198 S., 22 Euro.