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„Der junge Mann“Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux bricht erneut Tabus

Lesezeit 2 Minuten
Paris: Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux kommt nach der Verleihung des Literaturnobelpreises 2022 zu einer Pressekonferenz. (Archivbild)

Annie Ernaux schreibt frei von Schuldgefühlen oder bürgerlichen Moralvorstellungen. (Archivbild)

In ihrem neuen Buch „Der junge Mann“ erzählt die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux von ihrer Beziehung zu einem Studenten, der für sie nur Zugang zur Jugend ist.

Annie Ernaux hat immer wieder Tabus gebrochen. Sie hat über ihre Abtreibung geschrieben („Das Ereignis“, 2000) und über die Vergewaltigung im Ferienlager („Erinnerung eines Mädchens“, 2016). Mit ihrem neuen Buch „Der junge Mann“ bricht die Literaturnobelpreisträgerin von 2022 nun ein weiteres und erzählt erstmals von ihrer Beziehung zu einem fast 30 Jahre jüngeren Studenten.

Schonungslos spürt sie ihrem „Abenteuer“ nach, das sich allmählich zu einer Geschichte entwickelt. Von Beginn an ist der damals 54-jährigen Schriftstellerin bewusst, dass sie ihren Liebhaber auf gewisse Art missbraucht. Während er seine gleichaltrige Freundin verlässt und sogar ein Kind mit Annie will, ist er für sie nur ein „Zeitöffner“, der ihr Zugang zu ihrer Jugend ermöglicht.

Ich befand mich in einer Machtposition, und ich setzte meine Macht als Waffe ein, obwohl ich wusste, wie fragil sie in einer Liebesbeziehung ist.
Annie Ernaux

Sie genießt es, nicht das gezeichnete Gesicht eines Mannes in ihrem Alter vor sich zu haben und damit das ihres Älterwerdens: „Neben A’s Gesicht war auch meins jung. Männer wissen das seit ewigen Zeiten, also sah ich nicht ein, warum ich es mir hätte versagen sollen.“

Annie Ernaux mit ihren emanzipatorischen Büchern schon lange ein Vorbild

Mit ihren emanzipatorischen Büchern ist Annie Ernaux schon lange ein Vorbild für die jüngere Generation. Frei von Schuldgefühlen oder bürgerlichen Moralvorstellungen öffnet die mittlerweile 82-Jährige ein weiteres Kapitel aus ihrem Leben.

Der Liebhaber, der auch ihr Sohn sein könnte

Mag die neue Erzählung auch nicht ihre Beste sein. Es gibt nicht so viel eindringliche Bilder wie sonst, nicht ganz so griffige Formulierungen – dafür lassen die 50 Seiten zu wenig Raum für Reflexionen. Wie sehr aber Annie Ernaux die Dinge in ihren autofiktionalen Texten auf den Punkt bringt, ist immer wieder überwältigend. Wenn sie im neuen beispielsweise im Restaurant die missbilligenden Blicke vom Nebentisch beschreibt, weil sie einen Liebhaber hat, der ihr Sohn sein könnte. Auf diffuse Weise unterstellen die Leute ihr „Inzest“.

Während Annie Ernaux mit dem jungen Mann zusammen ist, fängt sie an, über ihre Abtreibung zu schreiben. Nachdem sie die Erzählung über dieses traumatische Ereignis abgeschlossen hat, verlässt sie ihren Liebhaber. „Als wollte ich ihn von mir lösen und abstoßen, so wie ich es gut dreißig Jahre zuvor mit dem Embryo getan hatte.“

Annie Ernaux: Der junge Mann. Suhrkamp, 48 Seiten, 15 Euro.