Neuer Roman „Rose Royal“Nicolas Mathieu überzeugt als wohl bester französischer Autor

Meister der vielsagenden Verknappung: Nicolas Mathieu.
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Köln – Wenn sie mit klackernden Absätzen die Straße überquert, stockt der Feierabendverkehr in Nancy. Denn Rose liest man ihre fast 50 Jahre allenfalls am Gesicht ab, aber nicht an der schlanken Gestalt mit den schönen Beinen. Natürlich hat die geschiedene Sekretärin eine Wohnung, doch jeden Abend zieht es sie in die schlauchförmige Bar Royal. „Das Bier war kalt, die Zeitung schon zerlesen, und unter ihrer rechten Sohle spürte sie das feste Metall ihrer Fußstütze.“ Willkommen daheim.
Nicolas Mathieu braucht nur wenige Seiten, um seine Heldin und ihr Lieblingsmilieu vollplastisch zu beschwören. Diese Frau ist wie der Autor in Lothringen aufgewachsen, war „umgeben von Schweigen und Groll“, hat jedoch irgendwie ihren Platz gefunden. Sie weiß, dass „Zeit, Tränen und schlaflose Nächte“ Spuren hinterlassen haben und dass Datingportale keine Lösung sind. Vor allem aber ist ihr Bedarf an jenen still vor sich hin brütenden Kerlen gedeckt, die nur mit den Fäusten sprechen können.
Der Autor
Nicolas Mathieu wurde am 2. Juni 1978 in Golbey, einer Gemeinde nördlich von Épinal im Grand Est (früher Lothringen) geboren. Er studierte an der Universität Metz Soziologie. 2014 veröffentlichte er seinen ersten Roman „Aux animaux la guerre“, der 2018 für eine sechsteilige Fernsehserie von France 3 adaptiert wurde. Es folgte 2018 sein zweiter Roman, der hier unter dem Titel „Wie später ihre Kinder“ bei Hanser Berlin erschien und in Frankreich den bedeutenden Prix Goncourt gewann. (EB)Von Hartmut Wilmes
„Die Angst sollte die Seiten wechseln“, hat Rose irgendwann entschieden und trägt seitdem eine Neun-Millimeter-Pistole in ihrer Handtasche. Ihr mühsam erkämpftes Gleichgewicht gerät in Gefahr, als es auf der Straße knallt und ein Mann mit einer angefahrenen Hündin ins Royal kommt. Rose gibt dem Tier den Gnadenschuss – und verliebt sich in den Unbekannten. Schwerer Fehler. Dabei ist Luc auf den ersten Blick eine gute Partie. Nicht unattraktiv in seiner grobknochigen Größe, dazu durchaus vermögend, weil er Bruchbuden kauft, aufmöbelt und profitabel verhökert. Rose fährt gern mit ihm im luxuriösen SUV. „Sie ließen es sich gut gehen. Sie tranken. Sie waren zufrieden.“ Nur im Bett herrscht Flaute, und als Rose die nach einem schönen Abendessen ohne Alkohol beenden will, trifft sie Lucs Hand hart im Gesicht.
Meister der vielsagenden Verknappung
Eigentlich müsste der Kurzroman „Rose Royal“ hier enden, entweder mit einer zugeschlagenen Tür oder einem Schuss. Beides bleibt aus. „Bei näherer Betrachtung erklärten die Gesetze der Trägheit und der Schwerkraft beinahe alles“, schreibt Mathieu und holt seine bewaffnete Hauptfigur aus dem reizvollen Halbdunkel der „Schwarzen Serie“ in eine weitaus gefährlichere Normalität.
Mit nicht einmal 100 Seiten ist dieser Roman eher eine längere Novelle, doch der französische Schriftsteller erweist sich als Meister der vielsagenden Verknappung. Fast jeder Satz zielt punktgenau ins Zentrum eines großen Echoraums und weckt dort Bilder, Assoziationen, Hoffnungen und Ängste. Wobei die Lakonie des Tons gleich klarmacht, wie hart jene Fakten sind, die durch falsche Entscheidungen geschaffen werden. Das Buch beschreibt einen „Mann und eine Frau, die sich an der Hand hielten und dachten, sie verstünden sich“. Klingt ziemlich alltäglich, doch dieser Erzähler spürt das Unbehagen in leisesten Andeutungen auf.
Letztlich erweist sich die Angst vor dem Alleinsein hier als fatale Kraft. In einem seiner wenigen grundsätzlichen Sätze sagt Mathieu: „Diese unzähligen Einsamkeiten, bekämpft mit Onlinekäufen und Streamingdiensten, waren die Pfeiler der Moderne.“
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Doch wenn zwei ihre nicht sonderlich gut harmonierenden Einsamkeiten zusammenwerfen, kann daraus etwas noch viel Schlimmeres werden. Und dieser zurzeit wohl beste Autor seines Landes lässt den dunklen Handlungsstrom so unaufhaltsam tragisch in den Gully rauschen, wie es sonst nur der große Georges Simenon konnte.
Nicolas Mathieu: Rose Royal. Roman, aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin, 95 S., 18 Euro.