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Pro und ContraBrauchen Schüler heute noch Werke von Goethe und Co?

Lesezeit 5 Minuten
Goethe Schiller

Das Goethe-und-Schiller-Denkmal auf dem Theaterplatz vor dem Deutschen Nationaltheater.

  1. „Faust I“ gehört von 2021 an nicht mehr zur Pflichtlektüre für Abiturienten in Nordrhein-Westfalen.
  2. Unter Pädagogen sorgt diese Entscheidung für große Diskussionen. Die einen befürworten sie, andere üben Kritik.
  3. Stellt sich die Frage: Brauchen Schüler heute noch Werke von Goethe und Co oder sollten die Schulen auf moderne Literatur setzen?

Pro: Ohne Werke wie „Faust“ lässt sich moderne Literatur oft nicht verstehen (Kirsten Bialdiga)

Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ ist ein Werk sui generis. Ein unvergleichliches Stück Weltliteratur, wie es vielleicht nur einmal in Jahrhunderten geschaffen wird. Es ist zugleich ein unverbrüchlicher Bestandteil der deutschen Kultur: Wer über die kulturelle Identität der Deutschen spricht und sie verstehen will, kommt am „Faust“ kaum vorbei.

Dass Deutschland als „Land der Dichter und Denker“ gilt, ist insbesondere auch Goethe zu verdanken.  Nicht umsonst tragen die Goethe-Institute, die auf der ganzen Welt deutsche Sprache und Kultur vermitteln sollen, diesen Namen.

Die Sprache von „Faust“ beeinflusst uns noch heute

Allein vor diesem Hintergrund ist es beinahe undenkbar, dass ausgerechnet der „Faust“ aus dem Prüfungskanon für das Abitur gestrichen wird. Übrigens: In Frankreich kennt jedes Grundschulkind die Namen der großen französischen Maler.

Hinzu kommt: Bis heute beeinflusst die Sprache dieses Werkes das Denken und Fühlen der Deutschen. Ob des „Pudels Kern“ oder das berühmte Zitat „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“ – kaum ein Kind wird in Deutschland ohne Faust groß. Die Brillanz der Verse, die sich in viele Sprachen nur unzureichend übertragen lässt, bringt Studierende an Universitäten in aller Welt dazu, Deutsch zu lernen. Nur um den „Faust“ einmal im Original lesen zu können. Und ausgerechnet deutschen Schülerinnen und Schülern soll dieses  Werk vorenthalten werden?

Die Figur des Doktor Faustus ist ein moderner Mensch

Die Sprache mag sich vielleicht 17- bis 18-jährigen Schülern zunächst nicht leicht erschließen. Aber genau hier ist Schule gefordert. Wer als Schüler nicht den Zugang zu diesem Klassiker eröffnet bekommt, dem wird es im Erwachsenenalter nur selten gelingen.

Abiturvorgaben für den Leistungskurs Deutsch

Bis 2020: Faust I (Goethe), Die Marquise von O (Kleist), Der Sandmann (E.T.A. Hoffmann), Das Haus in der Dorotheenstraße (Lange)

Ab 2021: Nathan der Weise (Lessing), Die Marquise von O., Der Sandmann, Das Haus in der Dorotheenstraße

Guten Lehrern dürfte das nicht schwerfallen. Es gibt genug Möglichkeiten, die Kinder auch für den „Faust“ zu begeistern. Warum beispielsweise nicht auch mit dem Film „Fack ju, Göhte“? (Der Streifen ist übrigens ein weiterer Beleg dafür, wie gegenwärtig Goethes Werk ist). Wenn es diesen Beleg überhaupt braucht. Denn die Figur des Doktor Faustus ist ein moderner Mensch. Einer, der nie zufrieden ist, von allem immer mehr will: mehr Wissen, mehr Geld, mehr Sex. Er setzt sich über Gesetze und moralische Grenzen hinweg, er hastet rastlos auf der Suche nach dem nächsten Kick von einer Vergnügung, einer Sensation, zur nächsten und denkt dabei nur an sich. Gewissenlos zerstört er andere Menschen, Glauben und Natur. Selbst das, was ihm einst wichtig war. Ein Mensch, wie es auch heute manche gibt.

Sicher, es gibt genug moderne Literatur, die sich mit essenziellen Fragen beschäftigt. Für Goethes „Faust“ gilt aber, was auf alle Werke zutrifft, die zum Kulturgut der Menschheit geworden sind wie etwa die antike Mythologie oder auch die Bibel: Die moderne Literatur lässt sich oft nur dann wirklich verstehen, wenn der Leser diese Schlüssel-Werke kennt. Ansonsten laufen viele Bezüge ins Leere.

Contra: Die Schule muss sich endlich Mühe machen, nach neuen, modernen Quellen zu suchen (Lothar Schröder)

Wer hat schon die Chuzpe, gegen den Olympier aus Weimar seine Stimme  zu erheben! Sicher, es gab mal einen Kinofilm mit dem gleichermaßen provokanten wie verkaufsträchtigen Titel „Fack ju Göhte“. Sechs Jahre danach scheint das Land damit ernst zu machen, indem „Göhtes“ Werke nicht mehr zum Prüfungskanon gehören sollen. Also werden immer weniger Schüler den Urfaust, Faust I oder II durchaus mit heißem Bemühen studieren. Die Proteste der zuletzt demonstrationsfrohen Schülerschaft werden sich arg in Grenzen halten, da viele mit dem Namen Goethe kaum etwas anzufangen wissen.

Natürlich ist das kein Grund zur Einstellung aller pädagogischen Bemühungen; doch muss man auch nüchtern sehen, dass seit der Weimarer Klassik knapp 200 Jahre vergangen sind. Auch wenn klassische Literatur deswegen so genannt wird, weil wir von ihren bleibenden, Epochen-übergreifenden Werten überzeugt sind, so muss die ketzerische Frage erlaubt sein, was wir an Literatur in den Schulen immer noch mitschleppen wollen? Kann damit Leseförderung bei einer Jugend erfolgreich betrieben werden, die von digitalen Angeboten überschüttet wird?

Die Schule schöpft ihr Repertoire aus dem abgesicherten Alten

Vor einiger Zeit wurden Schüler befragt, welchen Lektüretipps sie folgten. An erster Stelle stand der Freundeskreis; dann kamen mit beträchtlichem Abstand die Eltern, abgeschlagen am Ende stand die Schule. Das liegt nicht einmal an Goethe. Das liegt vor allem an verordneter Lektüre, am Prüfungs- und Bildungskanon einer Institution, die ihr Repertoire sehr bequem aus dem abgesicherten Alten schöpft und sich nicht die Mühe macht, nach neuen, vielleicht modernen, gar spannenden Quellen zu suchen.

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Ein solch museales Literaturverständnis widerspricht jedem Abenteuer- und Entdeckergeist, der Literatur innewohnt. Bücher sind immer Anarchie; auch deshalb werden sie bis heute von den Despoten dieser Welt gefürchtet, verboten, verbrannt.

Goethe ist mit dieser Entscheidung nicht tot

Auf den weiterführenden Schulen werden Jungen und Mädchen nicht mehr zu großen Lesern herangezogen. Diese Sozialisation ist nämlich mit der Grundschule abgeschlossen, genauer gesagt: die Lesefähigkeit des Gehirns ist ausgebildet. Wer in jungen Jahren also nicht intensiv an Bücher herangeführt wurde, wird später seltener einen Zugang zur Literatur finden. Das ist eine Herausforderung, die Phantasie nötig macht und natürlich auch den Mut, Neues, Zeitgemäßes zu präsentieren.

Goethe hat mit den Leiden des jungen Werther die Selbstfindungsnöte seiner Generation beschrieben. Das Thema hat nichts an Brisanz verloren, aber es hat vielleicht jüngere Autoren gefunden, die leichter zugänglich sind wie Wolfgang Herrndorf mit „Tschick“.

Goethe ist mit dem NRW-Entscheid nicht tot. Vielleicht kann er sich gar von seinem Dasein Lehrplan-Zombie erholen. Wer viel liest, wird auch nach der Schulzeit auf große Autoren treffen. Etwa auf Goethe.