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T.C.Boyles neues Werk„Sind wir nicht Menschen“ blickt in die traurige Seele Amerikas

Lesezeit 3 Minuten
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T.C. Boyle

  1. T.C. Boyles neuer Kurzgeschichtensammlung „Sind wir nicht Menschen“ beinhaltet knackige und kurzweilige Episoden.
  2. Doch Vorsicht, denn das Buch sollte besser in anti-frust-freundlichen Dosen konsumiert werden, findet unser Autor Axel Hill.

Köln – „Sie sagen, er müsse in der Öffentlichkeit eine Maske tragen.“ So beginnt der letzte Beitrag in T.C. Boyles neuer Kurzgeschichtensammlung „Sind wir nicht Menschen“. „Sie sind hochgradig ansteckend, und wenn Sie ohne Maske husten, können Bakterien in die Luft gelangen und Ihre Mitbewohner anstecken.“ Und wenn sich Marciano an diese Vorgaben nicht halte, könne er im Gefängnis landen.

Das klingt hyperaktuell, mit einer Portion Horror versehen. Doch schnell stellt sich dann heraus: T.C. Boyle hat hier keine prophetische Corona-Story geschrieben. Der mexikanische Tagelöhner in „Der Flüchtling“ hat eine resistente Form der Tuberkulose entwickelt, weil er seine Medikamente nicht konsequent genommen hat – beziehungsweise nicht nehmen konnte. Und so ist der Text von 2017 eine Kritik am US-amerikanischen Sozialsystem, dessen Maschen umso größer werden, je weiter man davon entfernt ist, weiß und privilegiert zu sein.

Oft wie zu früh auf die Stopp-Taste gedrückt

Gerade mal 15 bis 20 Seiten braucht Boyle, um das Leben seiner Kurz-Protagonisten um 180 Grad zu drehen. Das wird ein verwitweter Rentner über den Tisch gezogen („Der Beauftragte“). Ein Autor muss eine Nacht im Gefängnis verbringen, weil ihm ein Kinderschänder im Zug eines seiner Opfer untergeschoben hat („Der Marlbane Manchester Musser Preis“). Eine Collegestudentin, die ihren Abschluss nicht geschafft hat, versucht die Feier zu stoppen, damit sie ihr Dilemma weiter vor ihrer Mutter geheim halten kann („Bombig“). Manche Geschichten haben ein konkretes Ende, andere wirken, als hätte jemand bei der Aufnahme eines Videos zu früh auf die Stopp-Taste gedrückt.

Beziehungshöllen auf Erden

Und wie ein roter Faden, nein eher wie ein dunkelrotes Tau bevölkern Paare das Buch, die eigentlich besser gar nicht zusammengekommen wären. Besonderes Vergnügen scheint Boyle beim Entwerfen zickiger, verkniffener, nörgelnder Ehefrauen zu haben, die den nach Ruhe strebenden Männern an ihrer Seite das Leben zur Hölle machen. Als etwa der verhaftete Autor mit dem berühmten einzigen Anruf aus dem Gefängnis seine Gattin anruft, legt diese auf, weil sie das für einen Witz hält – und außerdem gerade etwas Besseres zu tun hat.

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Eine andere junge Frau trennt sich von ihrem Freund, weil ihm das Auto geklaut wird, während ihr Hund noch darin sitzt. Der Vierbeiner wird übrigens recht schnell wiedergefunden, während das Auto verschwunden bleibt. Aber dafür besteht für den Pechvogel nach 20 Seiten die Aussicht, mit einer netten Polizistin Wein zu trinken.

Knackige und kurzweilige Episoden

Doch auch die Kerle glänzen nicht gerade an der Beziehungsfront. In „The Way You Look Tonight“ flippt ein 31-Jähriger aus, als er – von seinem Bruder (!) – ein Sex-Video seiner Frau zugespielt bekommt, das entstanden ist, lange bevor die beiden sich kennenlernten. Ein Zeichner, in dessen einfältigen Comics „Jesus der Krieger“ Held hanebüchener Actiongeschichten ist, ist bass erstaunt, dass seine Freundin sauer ist, nachdem er ihr in einer Bar eine Eifersuchtsszene gemacht hat.

Die Geschichten sind knackig und kurzweilig, manches wirkt wie ein Entwurf, dem der Autor rechtzeitig angemerkt hat, dass Geschichte oder Figuren nicht auf Romanlänge zu strecken sind. Doch irgendwann ist man als Leser ermüdet von diesem Heer trauriger Gestalten, die auf unterschiedlichste Weise vom Leben getreten werden – oder sich treten lassen. Aber in anti-frust-freundlichen Dosen konsumiert, brilliert Boyles Sammlung als Chronik US-amerikanischer Befindlichkeit. Und Formulierungen wie „interspeziärer Pas de deux“ zeugen davon, dass der 71-Jährige ein wunderbarer Wortjongleur ist.

T.C. Boyle. Sind wir nicht Menschen. Stories. Deutsch von Anette Grube und Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag. 400 S., 23 Euro.