Das neue Buch von John IrvingMuss man sich diese 1088 Seiten antun?

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epa05297800 US writer John Irving poses for photographers during the presentation of his book 'Avenue of Mysteries' in Madrid, Spain, 10 May 2016. The novel tells about a writer who explores his fears. EPA/PACO CAMPOS ++ +++ dpa-Bildfunk +++

Erfolgsautor John Irving

Er hat einige dicke Bücher geschrieben, mit „Der letzte Sessellift“ übertrifft John Irving sich selbst - in Sachen Länge.

„Und doch würde ich, was ihre Sexualität betrifft, immer nur ein Außenseiter bleiben, immer nur ein Beobachter und dabei etwas schwer von Begriff.“

Denn Adam ist nicht nur in einer Sippe von Skifahrern der schlechteste, ein mittelmäßiger Ringer, und er ist vor allem der einzige Hetero in seiner queeren Kernfamilie. Großgezogen wird er von seiner Mutter Rae, deren Partnerin Molly und von Elliot Barlow – dem kleinwüchsigen Mann, den Rae heiratet und der später als Frau leben wird. Adams Cousine Nora und deren Freundin Em, die als Comedy-Patomimen-Duo auftreten, sind ebenfalls Teil dieses Patchworks, das John Irving für seinen neuen Roman „Der letzte Sessellift“ gewoben hat, der am heutigen Mittwoch erscheint. 

Die Liebe als wiederkehrendes Thema

Gut acht Jahrzehnte umfasst die Geschichte. Irving breitet sich epische 1088 Seiten lang aus – schon das englische Original kommt auf satte 912 Seiten. Es geht um Geburten und Tode und immer wieder um die Liebe.

Von der, so erfährt es Adam mit 14 auf der Hochzeit seiner Mutter, gibt es sehr viele Formen, wobei Irving wie schon in früheren Büchern immer wieder klar macht, dass die eher ungewöhnlichen nicht die schlechtesten sind.

Adams eigene Beziehungsversuche dagegen scheitern praktisch ab seinem „ersten Mal“, er hat ein Händchen dafür, sich immer wieder die falschen Frauen herauszupicken. Aber vielleicht will er das auch nicht anders, da die, die er wirklich liebt, scheinbar unerreichbar ist.

Daneben räumt Irving auch den Biografien der anderen Figuren jede Menge Platz ein, rollt ihre Schicksale mal mehr, mal weniger breit aus und lässt sie vor dem Hintergrund der amerikanischen Geschichte ab den 1950er Jahren agieren – oder sich darüber echauffieren.

So wäre Rae bereit, ihren Sohn mit einem Schuss ins Bein vor der Einberufung nach Vietnam zu bewahren. Ronald Reagans Ignorieren der AIDS-Krise ist ebenso Thema wie die gesellschaftlich-politische Spaltung des Landes. Und es geht um Romane (vor allem Melvilles „Moby-Dick“ – mit Bindestrich), Kinderbücher, Musik und Filme und deren Stars – sowohl reale als auch erfundene – wie der Schauspieler Paul, der vom obskuren B-Movie-Darsteller zur Hollywood-Größe aufsteigt und wieder fällt.

Wiederholungen bringen unnötige Längen

Wenn man sich fragt, wie der Roman so lang werden konnte, lässt sich das leicht beantworten: Neben der Menge an Material, die verhandelt wird, wiederholt Irving aber mantrahaft Phrasen, manchmal sogar ganze Passagen.

So wie man hin und wieder einen Gedanken dreht und wendet und wiederkäut – sich dabei aber auch mal im Kreis dreht, verheddert und meint, den Gedankengang erneut beginnen zu müssen. Er springt in der Chronologie vor und zurück, kommt vom Hölzchen auf das berühmte Stöckchen. Der Gedankensprung wird Konzept, der mäandernde Gedankenfluss strömt bisweilen zurück gen Quelle. Lesende werden dabei leicht zum Sisyphos: Da glaubt man, eine Spitze des Berges erreicht zu haben, rollt der Stein wieder zurück ins Tal.

Die Mühsal lässt dabei vergessen, was für eine wunderbare Geschichte mit noch wundersameren Wendungen John Irving für seinen ersten Roman seit sieben Jahren fabriziert hat – und wie viele schräge, aber auch umwerfend komische Szenen. Etwa die Beschreibung von Adams diversen gescheiterten horizontalen Annäherungsversuchen als Teenager, die seine Mütter, die Großmutter und deren Pflegerin mal kommentierend, mal hilfreich begleiten.

Parallelen zu Irvings eigenem Leben

Oder sein Treffen mit dem Zitherspieler, der auf seiner zweiten Hochzeit spielen soll – wie schon zuvor dessen Großvater die Hochzeit von Adams Mutter musikalisch begleitet hatte. In der Hoffnung, dass diesmal nicht ein Familienmitglied vom Blitz erschlagen wird.

Wie immer finden sich viele Parallelen zu Irvings Biografie in der Geschichte: das Ringen, die alleinerziehende Mutter, Orte wie Exeter, das IOWA’s Writers College, wo der Autor und seine Hauptfigur bei Kurt Vonnegut studierten.

Dass er mit Elliot Barlow die liebenswerteste Figur in diesem liebenswerten Kosmos geschaffen hat, hat möglicherweise auch einen Bezug zu seinem Leben: Seine Tochter Eva ist trans. Und da sie seine Bücher lektoriert, hat sie wohl auch die Stelle durchgewunken, in der die Operation beschrieben wird, der sich Elliot unterzogen hat. Ein Thema, von dem ein alter weißer Mann wie der 81-jährige Irving eigentlich die Finger lassen sollte. Doch vielleicht auch nicht, wenn es aus Liebe geschieht.

John Irving: Der letzte Sessellift. Roman, dt. von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes, 1088 S., 36 Euro

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