Den Grundstock des Rautenstrauch-Joest-Museums bilden die von Joest zusammengetragenen Objekte. Dabei ging der gebürtige Kölner nicht immer moralisch korrekt vor.
Sammler, Globetrotter, GrenzüberschreiterKritische Biografie beäugt das umtriebige Leben des Kölner Ethnologen Wilhelm Joest

Wilhelm Joest ließ eine Wachsfigur von sich herstellen, die er in seinem Flur neben vielen gesammelten Objekten aufstellt.
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Sohn aus reichem Haus, Globetrotter, ein Sextourist, der sich mit Frauen auf allen Kontinenten vergnügt: Doch irgendwann ist das dem Kölner Wilhelm Joest (1852-1897) nicht mehr genug.
Aus dem Reisenden wird ein Sammler, aus dem Laien ein Wissenschaftler, aus dem Spross einer Zuckerdynastie ein Ethnologe. Ein Umtriebiger, der mit 45 Jahren auf einem Schiff in der Nähe der Insel Santa Cruz stirbt. Seine Schwester Adele Rautenstrauch erbt seine private Sammlung, sie bildet den Grundstock für das Rautenstrauch-Joest-Museum.
Kritische Biografie
Mit „Der gesammelte Joest“ ist nun eine Biografie erschienen, in der sich Anne Haeming kritisch mit ihm auseinandersetzt. Und zu kritisieren gibt es reichlich.
Joest ist Kind seiner Zeit, Teil einer Gesellschaft und einer Gesellschaftsschicht, deren Blick auf andere immer davon geprägt ist, sich als etwas Besseres zu sehen. Aber Anne Haeming verfällt bei aller Kritik nicht in einen Duktus, der mit dem verbalen Holzhammer Figuren der Geschichte ohne Wenn und Aber als Persona non grata stempelt.
Über weite Strecken lässt sie einfach nur die Fakten sprechen — und schildert Unrecht und moralische Grenzüberschreitungen auf fast schon nüchterne Weise.
Joest hat keine Lust, in den Familienbetrieb einzusteigen und geht stattdessen, dank des Geldes seiner Eltern, mit 22 Jahren auf Reisen in ferne Länder. Kaum ein Kontinent, auf dem er sich bis zu seinem Tod nicht getummelt hat.
Zum Sammeln aufgefordert
Auf einer seiner Touren trifft er Adolf Bastian, den Gründungsdirektor des Berliner Museums für Völkerkunde, „der mich anregte, viel zu sammeln“, wie Joest in seinem Tagebuch notiert.
„Und er fängt direkt an“, schreibt Anne Haeming, „anders weiterzureisen, anders zu sammeln, ausgerichtet an Bastians Verständnis von Ethnologie: möglichst viele Objekte, möglichst schnell, Konvolute, Varianten eines Dings, für das ,Archiv der Menschheit', das Bastian in Berlin aufbauen will.“
Zurück in der Heimat dient Joest die gesammelten Artefakte verschiedenen Museen an. Seine Motivation: Er will als Forscher und Wissenschaftler anerkannt werden – Artefakte im Tausch gegen Ansehen. Unterfüttert wird dies von Artikeln, Aufsätzen und Büchern.
Übergriffiges Verhalten
Aber während er zu Hause brav den Diener macht und sich nicht davor scheut, in der geeigneten Situation zu buckeln, geht er unterwegs rigoroser vor. Und vor allem seinen Tagebüchern gegenüber macht er aus seinem grenzüberschreitenden Verhalten keinen Hehl.
Ja, er bezahlt, aber es ist mehr als zweifelhaft, ob beide Seiten von diesen Geschäften profitieren. Immer wieder ist die Rede davon, dass sich Menschen vor Ort von bestimmten Gegenständen nur ungern trennen, vor allem nicht von solchen, die mit Bedeutung aufgeladen sind.
Natürlich kann man folgende Episode, die er in einem Artikel in der „Zeitschrift für Ethnologie“ schildert, als lustige Anekdote deklarieren: „Es gelang mir auch ein merkwürdiges Pelzhalsband eines Zauberdoktors zu erlangen. Der Betreffende wankte betrunken vor mir durch das Feld, fiel hin und verlor dabei sein Collier sammt allen daran hängenden Arznei- und Zauberschätzen. Ich las es auf und annektierte es für die Wissenschaft, trotzdem der entnüchterte Zauberer später hohen Finderlohn aussetzte.“
„In die Sammlung einverleibt“
Alles, was er tut, rechtfertigt er mit dem Anspruch der europäischen Wissenschaft, des „Kulturvolkes“, das die Lebensweise der „Naturvölker“ für die Nachwelt sichern will.
Das gilt auch für eine Begebenheit, die Anne Haeming unter anderem im Kapitel „Der Perlengürtel“ beschreibt. In Mosambik fotografiert Joest eine junge Frau, „Fräulein Manasche“, wie er sie nennt. Auf einem Foto ist sie in bunte Tücher gehüllt, auf dem zweiten wird ihr Oberkörper nur noch von Perlenschnüren bedeckt.
„Erst sträubte sich die Frl. Manasche, sich ihrer Kleider zu entledigen, nicht etwa aus Zimperlichkeit, sondern weil sie Angst vor dem photographischen Apparat hatte.“ Zusammen mit einem Freund überredet Joest sie, und sie wird nicht nur in dessen Schlafzimmer fotografiert, sondern auch „der Sammlung des Photographen einverleibt“, wie Joest in seinem Buch „Weltfahrten“ schreibt.
Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der von ihm Grenzen überschritten werden, die Selbstverständlichkeit, mit der sich Menschen über andere erheben, die aus heutiger Sicht abzulehnen ist. Und zu Joests „gutem Ton“ gehört sowohl in den Tagebüchern als auch in den Veröffentlichungen latenter und offener Rassismus.
Häusliche Gewalt
Und er wird scheinbar zu Hause handgreiflich: Seine Frau Clara lässt sich nach elf Jahren Ehe scheiden, der Vorwurf der Misshandlung wird von Anne Haeming gestreift.
Ja, zu kritisieren gibt es viel an Wilhelm Joest – aber eben nicht nur. Der Welt zu erkunden, die Menschen zu verstehen hatte er sich auf die Fahnen geschrieben, wählte dafür aber nicht die richtigen Wege.
So spricht er sich zwar etwa explizit gegen Sklaverei aus, unternimmt aber nichts dagegen. Stattdessen nutzt er die koloniale Infrastruktur, und letztlich wird sein Lebenstraum durch den Reichtum seiner Familie finanziert. Und auch der ist durch Ausbeutung entstanden.
Anne Haeming. Der gesammelte Joest. Biografie eines Ethnologen. Matthes & Seitz, 303 S., 25 Euro. ZUsätzlich erschienen: Der Band „Aus Indien nach Santa Cruz durch die Ethnologie. Fragmente des Forschungsreisenden Wilhelm Joest“, für den Anne Haeming und Carl Deußen Artikel, Aufsätze und Tagebuchpassagen von Joest zusammengestellt haben (Matthes & Seitz, 255 S., 28 Euro).