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„Ye Olde Food“Kunstsammlung NRW zeigt faszinierende Schau des Briten Ed Atkins

Lesezeit 3 Minuten
Ed Atkins

Schwebendes Riesenbaby: Standbild aus Ed Atkins' „Good Bread“.

Düsseldorf – Lange passiert in der gemütlichen Holzhütte aufreizend wenig. Das Kaminfeuer knistert, Kerzen flackern, und auf einem kleinen Fernseher läuft „Frankenstein“. Warum sollte man da länger als zehn Minuten zuschauen? Vielleicht wegen der verheißungsvoll geöffneten Tür, durch die ganz am Ende ein Riesenbaby wie ein schwereloser Astronaut in den Raum torkelt, überall anstößt, irgendwann ans Klavier sinkt, spielt – und weint.

Man kennt dieses Baby schon vom Anfang des neunteiligen Videoparcours, den Ed Atkins in der Ständehaus-Dependance der Kunstsammlung NRW (K21) zeigt. In Großaufnahme fährt die Kamera an seinem Körper entlang, zoomt vor allem das Gesicht unangenehm nah heran, aus dem unaufhörlich dicke Tränen strömen. So viele, dass sie mit dem Regen im Hintergrund um die Wette tropfen.

Etwas unsagbar Schreckliches ist hier offenbar geschehen und bleibt kein Einzelfall. Auch der Junge in den altmodischen Pluderhosen heult sich die Augen aus dem Kopf, ebenso wie der alte Landsknecht, dessen gramzerfurchtes Gesicht eine einzige Lache ist.

Der laute Schmerz digitaler Klone

Dazu seufzt, schluchzt, stöhnt es aus den Lautsprechern auf der Bel Etage so erbärmlich, als ob hier alles Leid der Welt beschworen würde. Das stimmt – und stimmt auch wieder nicht. Atkins „Charaktere“ wirken zwar bis in runzlige Augenlider und feinen Haarflaum hyperrealistisch, entpuppen sich aber mit ihrer perfekten Glätte als digitale Klone, die den Schmerz echter Menschen eben nur spielen.

Für den nach Düsseldorf gereisten Künstler sind diese computergenerierten Gestalten „emotionale Crash-Test-Dummys“, deren behauptete Qualen man vielleicht nicht allzu ernst nehmen sollte. Letzteres ist indessen gar nicht so einfach, denn Atkins führt erst einmal die Verführungskraft virtueller Welten vor, um sie dann zu kritisieren.

Die durch Schauplätze und Schlüsselreize (etwa Jürg Freys Minimalmusik) raffiniert verknüpften Episoden spiegeln immer wieder Geschichten vor, die sie letztlich verweigern. Warum rennt der keuchende Pluderhosen-Junge pausenlos um das nun vor der Holzhütte stehen Klavier? Welche Kraft schleudert ihn durch das Loch in der Wand in einen kahlen Raum, in dem schon wieder das Klavier wartet?

Und aus welcher Zeit stammt eigentlich dieses Universum, dem schon der altenglische Titel „Ye Olde Food“ (Das alte Essen) eine seltsame Vorgestrigkeit aufschminkt? Und eine organische Verderblichkeit, die es im Reich der Chips und Festplatten nicht gibt.

Baby, Junge, Greis – die unerlösten Avatare scheinen in einer Beckett-Endlosschleife gefangen und schlagen den Betrachter durchaus in einen dunklen Bann. Doch da Atkins ihnen die Sprache verweigert, gerinnen ihre permanenten Ausnahmezustände irgendwann zur Pose. Apropos Pose: Als Raumteiler fungieren hier vier gigantische Kleiderständer, an deren Metallstangen rund 6000 Kostüme aus dem Fundus der Deutschen Oper Berlin hängen: Turandot, Maria Stuart, Don Carlos – auch deren Roben bekräftigen letztlich nur die Abwesenheit von Menschen aus Fleisch und Blut.

Fast denkt man an eine der beklemmenden Installationen von Christian Boltanski, dessen Kleiderberge von Verschwundenen erzählen. Doch ganz so abgründig sind Ed Atkins Scheinwelten nicht. Zudem würzt der Brite seine Filme gern mit schwarzem Humor.

Das witzigste Video parodiert als Rausschmeißer die gängige Fast-Food-Werbung: Da plumpsen allerdings menschliche Gesichter oder Knochen auf labbrige Brötchen, werden mit Senf oder Ketchup einbalsamiert und wehren sich dann als quicklebendige Kunstwerke gegen den Verzehr.

23. Februar bis 16. Juni, Di-Fr 10-18, Sa, So, Feiertags 11-18 Uhr. Jeden 1. Mittwoch 18-22 Uhr: KPMG-Kunstabend. Am 11. April, 19 Uhr, liest Atkins aus seinem demnächst erscheinenden Roman „Old Food“. Ständehausstraße 1.

http://www.staendehaus.de/

Der Künstler

Ed Atkins wurde 1982 in Oxford geboren. Seit rund 15 Jahren reflektiert seine Kunst die Veränderungen unserer Realität durch die digitalen Medien. Zur Animation seiner Videos benutzt er das auch in Hollywood verwendete „Motion Capture“-Verfahren, das menschliche Bewegungen aufzeichnet, um sie auf virtuelle Figuren zu übertragen. Der Brite lebt in Berlin und Kopenhagen. (EB)