Acht-Milliarden-Euro-ProjektStuttgart 21 droht zum finanziellen Desaster zu werden

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stuttgart 21 luftaufnahme

Das 8,2-Milliarden-Projekt aus der Luft gesehen: Im Mittelpunkt des Bildes der alte Kopfbahnhof.

Stuttgart – Die erste Stütze des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs wächst aus dem Bahnsteig. Michael Pradel nickt zufrieden. „Restkelch“ nennt der Verantwortliche der Bahn für diesen Abschnitt des Projekts Stuttgart 21 das Bauteil. Spätestens im Oktober soll die erste komplette Stütze gegossen werden, eine dritte folgt bis zum Jahresende. Die Stützen stellen ein wesentliches Charakteristikum des umstrittenen Durchgangsbahnhofs dar. 28 Kelchstützen sollen einmal das Dach des Tiefbahnhofs tragen, jede 800 Tonnen schwer. Bevor die Säule in die Dachfläche übergeht, umschließt sie ein verglastes Lichtauge mit 15 Metern Durchmesser. Allein das Schalen und Betonieren einer Stütze dauert 56 Tage – und fast jede ist anders.

Der Tiefbahnhof ist 420 Meter lang, die Baustelle bedrängt an beiden Enden vierspurige Bundesstraßen und zwei Stadtbahntunnel, die verlegt werden. Pendler müssen alle paar Monate mit einer neuen Führung der Spuren zurechtkommen. Kein Wunder, dass sich jüngst bei einer Umfrage 75 Prozent der Bürger von den Verkehrsproblemen genervt zeigten.

Planänderungen der Bahn brachte Abläufe durcheinander

Für den 45-jährigen Bauingenieur Pradel heißt es jetzt, sich zu beeilen. Für den Rohbau der Halle bleiben nach dem Zeitplan noch vier Jahre. Im Sommer 2022 muss das Dach geschlossen sein, sonst kann der Bahnhof, der ja eigentlich schon Ende 2019 eröffnet werden sollte, nicht Ende 2025 in Betrieb gehen. Begonnen wurde der Rohbau im August 2014, ganz ohne Tamtam. Jetzt ist Halbzeit.

Gleich nach dem Baustart entschied sich die Bahn zu diversen Planänderungen. Das brachte die ausgeklügelten Abläufe durcheinander, auch in den sieben weiteren Abschnitten von Stuttgart 21. Während gebaut wird und Teilstücke des Projekts, wie die viergleisige Stahlbrücke über den Neckar oder die beiden 9,5 Kilometer langen Tunnel von der City zur A 8 in Flughafennähe absehbar fertig werden, sind andere noch nicht einmal im Genehmigungsverfahren. Für die alten, vor 17 Jahren von der Stadt Stuttgart für 459 Millionen Euro gekauften Abstellgleise, die direkt an die Innenstadt angrenzen, gibt es noch heute keinen Ersatz.

Die Geschichte um neue Abstellanlagen ist vertrackt. Mehrfach nahm die Bahn Anlauf, um in Untertürkheim alte Gütergleise umzuwandeln. Erst klemmte es beim Lärmschutz, dann bei einem Untermieter: den Mauereidechsen. Weil deren Population nach einem Gutachten bei 140 000 liegt, dürfte der Artenschutz samt millionenteurer Umsiedlungen der Kriechtiere bald fallen. Das hilft nur bedingt, denn die geplante Abstellanlage samt zweier Satelliten ist zu groß geraten, weil die Bahn im Süden einen Teil des Regionalverkehrs verloren hat.

Weitere Beispiele für das für Stuttgart 21 symptomatische Hin und Her in diesem inzwischen auf 8,2 Milliarden Euro veranschlagten Infrastrukturprojekt: Für den Tunnel zum Flughafen rieten die Projektgegner aus Kosten- und Zeitgründen dringend zur großen Bohrmaschine. Die Bahn wiegelte ab, ließ sich den Bau mittels Sprengungen genehmigen. Dann schwenkte sie um. Die Herrenknecht AG (Schwanau), Weltmarktführer bei Großbohrgeräten, musste die für S 21 maßgefertigte Maschine bis zur Genehmigung einlagern.

Inzwischen sind immerhin 41 von 59 Tunnelkilometern gebohrt. Wirklich kritische Erdbewegungen gab es keine, Gutachten im Auftrag der Bahn warnen aber vor einer immerwährenden Gefahr. In den nächsten Monaten steht in der City ein zwar nur 240 Meter langer, aber besonders schwieriger Abschnitt an. Um die Lücke zwischen den Röhren zum Flughafen und dem Tiefbahnhof zu schließen, müssen Wohnhäuser angehoben werden. Tunneldecke und Kellerfundamente trennen wenige Meter. Auch am Tiefbahnhof gab es Änderungen. Fluchtwege und die Entrauchung brauchten drei Anläufe. Solche Malaisen kommentierte der S-21-Sprecher Wolfgang Dietrich stets mit dem Satz „keine Auswirkung auf Kosten und Zeitplan“. Der frühere Bahn-Infrastrukturvorstand Volker Kefer, der sich im Detail mit dem Projekt befasste, beklagt „behördlichen Schwergang“ und mangelnde Kooperationsbereitschaft von Stadt und Land und dem Bonner Eisenbahn-Bundesamt.

Stuttgart 21 (1)

Die Baustelle Stuttgart 21.

Kefer hat die Bahn 2016 verlassen, einen Monat, bevor Vorstandschef Rüdiger Grube hinwarf. Und die Grünen, denen Stuttgart 21 und die Reaktorkatastrophe in Fukushima in Baden-Württemberg mit an die Macht halfen, haben sich mit dem Projekt mehr oder weniger arrangiert. Harsche Kritik kommt ab und an noch von Verkehrsminister Winfried Hermann. Er nannte S 21 jüngst „die größte Fehlentscheidung der Eisenbahngeschichte“.

Ausufernde Kosten – finanzielles Desaster droht

Ein Damoklesschwert für alle Baupartner bleiben die ausufernden Kosten. Tief- und Flughafenbahnhof, die Strecke entlang der A 8 bis zum Anschluss an den Neubau nach Ulm sowie der Gleisring unter der Stadt sollten einmal 3,1 Milliarden Euro kosten. So war es 2009 vereinbart. Dazu kam ein Risikopuffer von 1,45 Milliarden. Inzwischen liegt die Bahn bei 8,2 Milliarden Euro, 82 Prozent über der früheren Gesamtsumme. Der Schienenkonzern trägt vorerst alle Kosten, aber er hat die Partner auf unbegrenzte Mitzahlung verklagt.

Die Kostenkeule könnte die grün-schwarze Landesregierung mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann und auch die Stadt empfindlich treffen. Sie sollen gemäß der alten Verteilung 65 Prozent des Risikos stemmen. Das sind 2,4 Milliarden Euro. Selbst für das reiche Stuttgart droht ein finanzielles Desaster.

Hartmut-Mehdorn

Juristen aus dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 werfen der Bahnspitze Untreue vor. Hartmut Mehdorn könnte vom Gericht befragt werden.

Fritz Kuhn sieht den Bund in der Pflicht. Der Staat ist laut Grundgesetz für neue Schienenwege allein zuständig. Doch S 21 ist nicht nur bau-, sondern auch finanztechnisch eine einmalige Spezialkonstruktion. Außerhalb des Bundesverkehrswegeplans gibt es kein Infrastrukturvorhaben mit derartiger Dimension. Schwarz-Grün in Stuttgart hofft auf Textpassagen, die sich in Vorverträgen und Notizen aus Verhandlungen des früheren Ministerpräsidenten Günther Oettinger (CDU) und des Bahnchefs Hartmut Mehdorn finden. Der habe 2007 für eine Aufstockung des Landes um 473 Millionen Euro auf eine eindeutige Mehrkostenklausel verzichtet. Oettinger will sich „mit Respekt vor allen Beteiligten“ zu dem Thema nicht äußern.

Juristen werfen Bahnspitze Untreue vor

Mehdorn (76) ist längst in Rente. Aber das Gericht könnte ihn befragen. Juristen aus dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 werfen der Bahnspitze Untreue vor. Sie habe das Unternehmen im frühen Wissen um die fehlende Rentabilität von S 21 geschädigt und den Konzern immer tiefer ins Verderben geführt. Tatsächlich räumte der Vorstand im März 2013 ein, dass die Bahn S 21 „mit dem heutigen Kenntnisstand“ nicht mehr beginnen, aber eben „sehr wohl fortführen“ würde. Denn ein Ausstieg komme teurer. Mit dem Großteil der Grünen haben sich weite Teile der früheren Gegner mit dem Bau arrangiert – wenn auch der harte Kern weiter jeden Montag auf dem Stuttgarter Schlossplatz demonstriert und gegenüber dem Bahnhof rund um die Uhr eine Mahnwache besetzt hält.

Die Gegner erwarten, dass S 21 die prognostizierte Verkehrszunahme nicht wird bewältigen können. Und sie fordern den Ausbau der Zulaufstrecken. Als schon jetzt an der Kapazitätsgrenze gilt die Zufahrt von Norden in die Stadt. Die seit 1991 betriebene ICE-Strecke Mannheim-Stuttgart bricht in Zuffenhausen ab, rund sieben Kilometer vor dem Hauptbahnhof. Nicht nur die Kritiker sehen hier zwei weitere Gleise zur City als dringend nötig an. Doch das sind Planungen, die außerhalb des Projekts liegen. Zunächst muss der Bahnhof fertig werden.

Der Autor ist Redakteur bei der Stuttgarter Zeitung. 

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