Corbyn will Misstrauensvotum gegen JohnsonIst der Brexit noch zu stoppen?

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Auf den ersten Blick hat ein Misstrauensvotum gegen die konservative Regierung von Boris Johnson gute Chancen. 

  • Labour-Chef Jeremy Corbyn will durch die Bildung einer Übergangsregierug einen ungeregelten Brexit verhindern.
  • Wie funktioniert das, wo liegen Risiken, was sind die Alternativen?
  • Welche Folgen hätte ein Misstrauensvotum?

Auf den ersten Blick hat ein Misstrauensvotum gegen die konservative Regierung von Boris Johnson gute Chancen. Sie stützt sich im Unterhaus auf eine Mehrheit von nur noch einer Stimme. Rund 20 konservative Abgeordnete wollen wie Corbyn den ungeregelten Brexit verhindern. Zwar kann sich Corbyn seiner eigenen Leute nicht in jedem Fall sicher sein, es gibt auch bei Labour radikale Brexit-Anhänger. Aber wenn sich Labour und die kleineren Oppositionsparteien ansonsten einig sind, genügen wenige konservative Überläufer – vielleicht acht –, um Johnsons Kabinett das Misstrauensvotum auszusprechen.

Nur: Damit wäre Johnson noch nicht gestürzt. Das Unterhaus hätte vielmehr nun 14 Tage Zeit, einer Regierung das Vertrauen auszusprechen. Corbyn, der Übergangspremier werden will, muss also eine Mehrheit hinter sich bringen. Grundsätzlich sind hier aber mehrere Anläufe möglich. Nach einem Scheitern Corbyns könnte ein weiterer Versuch mit einem Kompromisskandidaten wie dem 79-jährigen Konservativen Ken Clarke unternommen werden. Eher theoretisch ist die Möglichkeit, dass das Parlament sich doch wieder für Johnson ausspricht.

Bleiben alle Versuche erfolglos, dann sind Neuwahlen die Folge. Den Termin kann wiederum Johnson festsetzen – spekuliert wird über den 1. November, den Tag nach dem aktuell geltenden Brexit-Datum. Das wäre ein Freitag, in Großbritannien unüblich, aber zulässig. Eine andere Möglichkeit: Mittwoch, der 30. Oktober. Johnsons Wahlkampfschlager wäre dann die Botschaft „Brexit in 24 Stunden“. Wird der Brexit auch nach Ansetzung von Neuwahlen vollzogenn? 25 Arbeitstage vor der Wahl - bei einem Urnengang an Allerheiligen also am 27. September – würde das Unterhaus aufgelöst. Damit gäbe es in den fünf Wochen vor dem Brexit-Termin keine Chance mehr für die Abgeordneten, zu intervenieren.

Das macht das Misstrauensvotum zu einem so gefährlichen Instrument: Scheitert die Bildung einer Übergangsregierung, hätte Johnson freie Hand. Corbyn spielt somit va banque: Er will Liberaldemokraten und gemäßigte Konservative zwingen, ihm ihre Stimmen zu geben, wollen sie nicht den harten Brexit riskieren. Manche Verfassungsrechtler glauben, Johnson dürfe den Brexit nach Ausrufung von Neuwahlen nicht vollziehen. Sie berufen sich auf den ungeschriebenen Grundsatz, dass eine Regierung im Wahlkampf keine Entscheidungen mehr treffen darf, die ihre Nachfolger politisch binden.

Das nennt man mit einem indischen Fremdwort „purdah“, Verhüllung (gemeint ist: Verhüllung der Regierungsmacht). Johnson kann und würde gewiss aber argumentieren, dass er ja gar nicht aktiv handelt, sondern lediglich den bereits erklärten EU-Austritt in Kraft treten lässt. Soviel ist nämlich klar: Eine Verschiebung oder Absage des Brexit kann nur auf Antrag der britischen Regierung hin stattfinden. Johnson kann also einfach den Dingen ihren Lauf lassen.

Ist der Brexit gesetzlich zu stoppen?

Die meisten konservativen Dissidenten wie Ex-Finanzminister Philip Hammond lehnen ein Misstrauensvotum gegen Johnson ab. Sie setzen auf die Möglichkeiten der Gesetzgebung. Dazu muss das Parlament zunächst durch einen Geschäftsordnungsbeschluss die Verfügung über die eigentlich von der Regierung bestimmte Tagesordnung an sich ziehen. Immerhin ist es so schon einmal gelungen, die britische Regierung zu zwingen, bei der EU eine Verlängerung zu beantragen: Beide Kammern, Unterhaus und Oberhaus, brauchten nur einen Tag, den 8. April 2019, um die damalige Premierministerin Theresa May entsprechend anzuweisen.

Der Haken dabei: Eine Verlängerung der Austrittfrist (wenn die EU ihr überhaupt zustimmt) ist haushaltswirksam, denn es fallen ja weitere EU-Beiträge an. Haushaltsgesetze kann nur die Regierung einbringen. Darauf wird Johnson verweisen. Am 8. April forderten die Parlamentarier May lediglich auf, ein neues Austrittsdatum zur Abstimmung vorzulegen. May kam dem nach und sprach mit der EU, es wurde der 31. Oktober. Boris Johnson kann einen Beschluss des Parlaments somit leicht – indem er nicht konstruktiv mit der EU spricht – hintertreiben.

Was dann? Oberhaus und Unterhaus könnten durch weitere Beschlüsse auch die Zuständigkeit für Etatgesetze an sich ziehen, so der Verfassungsrechtler Vernon Bogdanor im „Guardian“. Hinterbänkler ohne Ministerialapparat müssten dann praktisch eine Nebenregierung aufmachen – das ist aber auch für Bogdanor schwer vorstellbar. Außerdem: Das Parlament kannn ja nicht selbst mit der EU verhandeln. Der Konflikt könnte rasch wieder zur Frage von Misstrauensvotum und Neuwahlen führen, mit allen schon beschriebenen Problemen.

Allerdings: Jetzt wäre auch den letzten Johnson-kritischen Konservativen klar, dass alle Möglichkeiten unterhalb des Misstrauensvotums erschöpft sind und sie nur noch die Wahl haben, mit ihrer Partei zu brechen oder den harten Brexit hinzunehmen.

Was will Boris Johnson?

Johnson setzt darauf, nach dem 31. Oktober wieder mit der EU ins Gespräch zu kommen. Er glaubt, nach vollzogenem Brexit in einer stärkeren Verhandlungsposition zu sein, braucht aber eine klare Mehrheit im Unterhaus, um eventuelle Verträge durchzubekommen. Er ist erkennbar auf Neuwahlen eingestellt und lässt den Konflikt mit der Mehrheit der Unterhausabgeordneten, die seinen Kurs gegenüber der EU ja ablehnt, eskalieren – etwa durch einen Facebook-Dialog mit Bürgern, in denen er die Abgeordneten als Kollaborateure der EU brandmarkte.

Ihm wäre ein früher Neuwahltermin doppelt recht – weil das Parlament dann im Oktober nicht tagen könnte und weil er dann im Glanz des gerade vollzogenen Brexit in die Wahl gehen könnte, während die nachteiligen Folgen des Brexit erst nach und nach deutlich würden. Je länger der Konflikt mit dem Unterhaus dauert, desto schlechter für ihn.

Wahlaussichten

In Meinungsumfragen liegen die Konservativen (Stand: Ende Juli) landesweit bei Werten um 30 Prozent. Das klingt nicht sehr eindrucksvoll. Nach einer Berechnung des Portals Electoral Calculus könnte es aber genügen, um 311 von 650 Wahlkreisen zu gewinnen – nur sieben weniger als unter Theresa May 2017 mit damals 43,5 Prozent (Prozentangaben nur bezogen auf England, Wales und Schottland).

Im britischen Wahlrecht zählt ja ausschließlich, wer in wie vielen Wahlkreisen vorne liegt. Johnson kommt zugute, dass er durch seinen harten Kurs gegenüber der EU die Brexit-Partei von Nigel Farage klar distanziert hat und dass sechs Parteien, fünf davon ausgemacht EU-freundlich, um die Stimmen der politischen Mitte und des linken Lager konkurrieren.

Wie brutal das Mehrheitswahlrecht wirkt, zeigt sich daran, dass die Liberaldemokraten mit gut 18 Prozent nur auf 43 Sitze kämen und die Brexit-Partei mit knapp 15 Prozent auf keinen einzigen – während die Nationalisten aus Schottland dort 50 Sitze abräumen könnten und dazu nur gut drei Prozent aller britischen Wähler brauchen würden.

Kleine Verschiebungen in wenigen Wahlkreisen könnten genügen, um Johnson eine absolute Mehrheit zu sichern – aber auch umgekehrt dazu führen, dass er keine neue Regierung mehr bilden kann: Zum Beispiel dann, wenn Corbyns Kampfansage sich in mehr Stimmen für Labour niederschlägt oder wenn Liberaldemokraten und Grüne ein Wahlbündnis schließen, anstatt einander die Stimmen abzujagen.

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