Nancy Faeser über Flüchtlingspolitik„Wir haben aus den Erfahrungen von 2015 gelernt“

Lesezeit 5 Minuten
Nancy Faeser

Nancy Faeser, Innenministerin 

Wegen des Ukraine-Krieges sind inzwischen mehr als 300000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Vermutlich sind es noch mehr, weil sie nicht systematisch an der Grenze kontrolliert und registriert werden. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) will das trotz Kritik auch nicht ändern, wie sie im Interview mit Marion Trimborn sagt. Den Kommunen verspricht sie eine faire Kostenteilung bei der Aufnahme – und hat einen Vorschlag. Frau Faeser, trotz Kritik werden ukrainische Kriegsflüchtlinge nach wie vor nicht systematisch an der Grenze kontrolliert und registriert. Das ist doch eine Sicherheitslücke, weil wir nicht wissen, wer da eigentlich ins Land kommt, oder? Faeser: Wir haben ein genaues Bild. Ganz überwiegend kommen Frauen und Kinder. Mehr als 95 Prozent der Geflüchteten sind ukrainische Staatsangehörige. Ukrainische Flüchtlinge werden kontrolliert, wenn sie an der EU-Außengrenze in Polen oder der Slowakei ankommen. Pass-Kontrollen auch an unseren Grenzen sind aber richtig und wichtig. Das macht die Bundespolizei insbesondere in Bahnen und Bussen. Aber aus unserer Sicht wäre es aus humanitären Gründen nicht verhältnismäßig, die Grenzen zu schließen, weil wir so Frauen und Kinder, die nach tagelanger Flucht dringend Hilfe brauchen, erneut aufhalten würden. Dennoch riskieren Sie mit diesem Vorgehen ein Chaos, oder? Nein. Die Menschen werden bei der Erstaufnahme registriert. Danach verteilen wir sie innerhalb Deutschlands, unter anderem über das von uns eingerichtete Drehkreuz am Messebahnhof in Hannover. Viele, die privat unterkommen oder mit dem Auto zu Familien und Freunden reisen, werden so aber gar nicht erfasst – sondern werden erst Wochen später registriert. Hier gilt die Visafreiheit für Ukrainerinnen und Ukrainer. Aber auch dieser Teil der Menschen wird spätestens nach 90 Tagen registriert. Aber dieses Vorgehen hat doch viele praktische Nachteile, etwa bei den Sozialausgaben, der Unterbringung und der gerechten Verteilung auf die Bundesländer. Warum nehmen Sie das in Kauf? Es ist geltendes Recht, dass Ukrainerinnen und Ukrainer in Europa 90 Tage lang frei reisen können. Sie sind nicht in der EU, aber Europäer – wie wir. Die gerechte Verteilung ist möglich, und sie erfolgt: Wir steuern und koordinieren diese Verteilung eng mit den Ländern. Die Registrierung ist auch Voraussetzung für staatliche Unterstützung, für Unterkünfte und Sprachkurse. Ist ein Grund dafür nicht auch eine Unfähigkeit der deutschen Verwaltung? So fehlen etwa Registrierungsgeräte für die Erfassung, und es gibt Klagen über die mangelnde Digitalisierung der Bundespolizei … Zunächst einmal verdienen all jene unseren Respekt, die auch in den Verwaltungen alles dafür tun, um diese humanitäre Herausforderung zu bewältigen. Der Bund stellt die notwendige digitale Ausstattung für die Registrierung den zuständigen Ausländerbehörden der Länder kostenfrei zur Verfügung. Bundesweit unterstützen weit mehr als 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge die Länder bei der Registrierung. Bund und Länder streiten nun über die Kostenteilung für die Flüchtlingsaufnahme. Was bieten Sie den Kommunen an? Wir haben aus den Erfahrungen der Fluchtbewegung von 2015/2016 gelernt. Wir haben von Anfang an gesagt, dass der Bund die Kommunen nicht alleinlässt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Ministerpräsidentenkonferenz am 7. April einen Kompromiss findet, um die Kommunen zu unterstützen. Das wäre eine sehr viel schnellere Lösung, als sie damals gefunden wurde. Da hat es über ein Jahr gedauert. Wie es heißt, hat sich der Bund bewegt, und die Ampel-Koalition hat angeboten, Ukraine-Flüchtlinge nach drei Monaten in die Grundsicherung zu übernehmen, die der Bund zahlt. Dazu gehören auch Maßnahmen für die Integration in den Arbeitsmarkt. Den Kommunen bliebe dann nur noch, etwa ein Drittel der Unterkunftskosten zu tragen. Wir haben das angeboten, weil es folgerichtig ist. Denn auch Asylbewerber erhalten nach ein paar Monaten die Grundsicherung. Wir wollen Geflüchtete aus der Ukraine nicht schlechter behandeln und insbesondere gute medizinische Versorgung und soziale Sicherheit ermöglichen.

Die Hilfsbereitschaft der Deutschen bei der Aufnahme war und ist enorm – aber natürlich sind diese privaten Initiativen irgendwann erschöpft. Ist es überhaupt noch notwendig, dass Privatleute Flüchtlinge aufnehmen? Ich bin sehr dankbar für die großartige Hilfsbereitschaft, die die Menschen in unserem Land zeigen. Dass so viele Unterkünfte angeboten werden, das haben wir so noch nie erlebt. Für diese Frauen und Kinder, die aus dem Bombenhagel in der Ukraine geflohen und traumatisiert sind, ist es natürlich besser, wenn sie in einer Familie untergebracht sind oder über eigenen Wohnraum verfügen, als wenn sie in staatlichen Einrichtungen unterkommen. Dennoch ist klar: Staatliches und privates Engagement greifen hier ineinander. Viele Familien können das nur für begrenzte Zeit leisten. Daher geben wir Geflüchteten aus der Ukraine sofortigen Arbeitsmarktzugang, damit sie hier schnell auf eigenen Beinen stehen können. Wegen des Angriffskrieges kommt es immer wieder zu Anfeindungen von Russen, die in Deutschland leben. Gibt es vermehrt Angriffe und Aggressionen? Ja, solche Taten gegen Russen und gegen russische Einrichtungen nehmen zu. Seit Kriegsbeginn Ende Februar haben wir 308 anti-russische Straftaten registriert, darunter 15 Gewalttaten. Dazu kamen 109 anti-ukrainische Straftaten, davon 13 Gewalttaten. Dabei handelte es sich vornehmlich um Sachbeschädigungen, Beleidigungen und Bedrohungen und bei den Gewaltdelikten um Körperverletzungen. Die Polizei hat diese Fälle sehr genau im Blick und schützt jeden Menschen hierzulande gleichermaßen. Dieser Konflikt darf nicht in unsere Gesellschaft hineingetragen werden. Wir erinnern immer daran: Das ist Putins verbrecherischer Angriffskrieg. Es ist nicht der Krieg der Menschen mit russischen Wurzeln, die hier bei uns in Deutschland wohnen. Die EU will bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine weiter nur auf den freiwilligen Einsatz von Mitgliedstaaten setzen. Sie dagegen fordern nach wie vor eine verbindliche Quote – obwohl Deutschland seit Jahren mit dieser Forderung in Brüssel scheitert… Wir brauchen eine verbindliche, solidarische Verteilung der Geflüchteten. Gemeinsam mit Polen und Frankreich sind wir vorangegangen und verteilen über unsere Drehkreuze bereits. Diesen Weg werden wir konsequent weitergehen. Sie sind als Innenministerin auch für die Vorsorge im Katastrophenfall zuständig. Viele Menschen in Deutschland wappnen sich derzeit mit Hamsterkäufen gegen steigende Preise und Engpässe etwa bei Mehl. Was halten Sie davon? Für diese sogenannten Hamsterkäufe gibt es überhaupt keinen Grund. Deshalb rufe ich dazu auf, das nicht zu tun. Denn erst durch Hamsterkäufe kommt es zu Versorgungsengpässen, die vorher nicht da waren.

Rundschau abonnieren