Reportage aus den USAZwei Menschen erzählen, wie 9/11 ihr Leben veränderte

Ein Tag, der die Welt veränderte: Der 11. September 2001
Copyright: AP
Anrufe zum Abschied
Was sagt man zu einem Ehepartner, ahnend, dass sein Schicksal besiegelt ist und dass es keine Rettung geben wird? „Alles wird okay sein. Ich liebe dich.“ Das waren die Worte, die der Jurist Ted Olson aus Washington vor 20 Jahren an seine Frau Barbara richtete. Abschiedsworte, für die es – wie bei vielen Hunderten Menschen in den brennenden Türmen des World Trade Center – nur Sekunden Zeit gab.

Barbara Olsen
Copyright: Diederichs

Ted Olson
Copyright: Diederichs
Der 11. September 2001 ist Ted Olsons Geburtstag. Der damals 60-Jährige sitzt an seinem Arbeitsplatz im US-Justizministerium, als die TV-Sender zeigen, wie zwei gekaperte Flugzeuge in die Wolkenkratzer an der Südspitze Manhattans einschlagen. Kurz nach dem zweiten Crash klingelt sein Handy. Es ist die 45-jährige Barbara Olson, die im American Airlines Jet mit der Flugnummer 77 sitzt und von Washington nach Los Angeles fliegen will.
Zweimal gelingt es ihr ab 9.16 Uhr, ihn anzurufen, bevor die Leitung tot ist. „Die Gespräche dauerten vielleicht eine Minute, zusammengerechnet“, erinnert sich ihr Mann. Ted Olson erfährt auf diesem Weg, was niemand in den USA am 11. September zu diesem Zeitpunkt wusste: Das Flugzeug ist die dritte von insgesamt vier gekaperten Maschinen. Die fünf Entführer haben, so schildert es Barbara Olson – eine prominente TV-Kommentatorin – die 51 Passagiere und die sechs Crew-Mitglieder im hinteren Teil der Kabine zusammengepfercht. Sie bedrohen sie mit Teppichmessern. Barbara will von Ted wissen, was sie den Piloten sagen soll. Ihr Mann enthüllt im ersten Telefonat, was mit den beiden Jets in New York geschehen ist. Dennoch beteuern beide trotzig: „Alles wird okay werden.“
„Ich habe gewusst, dass es Barbaras Maschine gewesen sein muss“
Ted Olson ist ein ruhiger Mann, der seine Worte überlegt wählt. Er gibt an die Krisenzentrale des Justizministeriums weiter, was seine Frau ihm berichtet hat. Barbaras Handy klingelt erneut. Die Entführer von American Airlines 77 sagen den Passagieren, sie sollten sich ruhig verhalten, berichtet sie. Dann werde alles gut. Und: Man fliege niedrig über bewohntes Gebiet. Dann bricht die Leitung ab.
Wenig später berichten die ersten Sender von einem Feuerball am Pentagon. Es ist 9.37 Uhr. „Ich habe gewusst, dass es Barbaras Maschine gewesen sein muss“, sagt der Jurist. Das eigentliche Ziel könnte wohl das Weiße Haus gewesen sein. Doch die Kidnapper drehten plötzlich mit einem Manöver, das erhebliches Training voraussetzt, in Richtung Pentagon ab. Am Steuer muss nach den Ermittlungen Hani Hanjour gesessen haben, der eine Berufspiloten-Lizenz besaß und in den US-Bundesstaaten Arizona, Maryland und New Jersey trainiert hatte.
Ted Olson hat Barbara im Familiengrab im Bundesstaat Wisconsin beisetzen lassen. Hier verbringt er auch meistens die 9/11-Gedenktage – und seinen Geburtstag. Schon kurz nach den Attacken hatte er beschlossen, sein Leben nicht vom Trauma der Terroranschläge und dem Verlust seiner Partnerin dominieren zu lassen. „Barbara, die das Leben so liebte, hätte gewollt, dass ich mein Leben nach meinen Vorstellungen weiterlebe“, vertraute er einmal einem Reporter an. Ted Olson hat 2006 wieder geheiratet. Und wenn es für ihn eine Lehre vom dunkelsten Tag seines Lebens gibt, dann ist es diese: „Schreckliche Dinge können uns geschehen, und Schreckliches ist am 11. September geschehen. Aber wenn wir nach Glück und Liebe und Erfüllung suchen, werden wir es finden.“
Durch Zufall überlebt
Es war der Faktor Zufall, der am 11. September 2001 über Leben oder Tod mancher Menschen entschied. Feuerwehrmann Tony Mussorfiti (65) überlebte die Terroranschläge, weil ein Vorgesetzter in letzter Minute den Dienstplan geändert hatte. „Eigentlich wäre ich an diesem Tag dran gewesen,“ berichtet Mussorfiti im Gespräch mit unserer Redaktion. So erfuhr er beim Frühstück von den Attacken im Radio. Raste zu seiner Feuerwache.

Tony Mussorfiti
Copyright: Diederichs
Warf sich in die Schutzkleidung. Und machte sich mit anderen Freiwilligen durch verstopfte Straßen auf den Weg zur Südspitze Manhattans. Auf der Fahrt schrieb er sich mit einem Stift den Namen, die Dienstnummer und die Blutgruppe auf den Arm – es sollte eine Identifizierung leichter machen. Als er einen halben Kilometer vom World Trade Center entfernt war, stürzte der letzte der beiden Türme ein. Die geplante Rettungsaktion beschränkte sich nach 24 Stunden, in denen ein Überlebender gefunden wurde, nur noch auf das Bergen von Leichenteilen.

Viele Feuerwehrleute starben beim Einsturz des World Trade Center
Copyright: dpa
Von den 22 diensthabenden Feuerwehrmännern der Wache von Mussorfiti in Queens starben an diesem Tag 19. Der Feuerwehrmann wäre deshalb ein perfekter Kandidat für das, was Psychologen als „survivor guilt“ bezeichnen – Schuldgefühle, im Gegensatz zu 343 getöteten Kollegen überlebt zu haben. Doch davon will Mussorfiti nichts wissen. „Ich habe stets versucht zu verhindern, dass mich dieser Tag definiert. Ich habe doch nicht die Entscheidung getroffen, frei zu haben.“
Dennoch sind die Folgen für ihn schwerwiegend: „Es gibt die Zeit vor 9/11 und die Zeit nach 9/11 für mich“. Vor 9/11 existierten keine Albträume, in denen er Freunde im Treppenhaus eines Wolkenkratzers sieht, bis die Wände einstürzen. Vor 9/11 gab es keine Lungenkrankheit, die er sich durch die Arbeiten auf „Ground Zero“ zuzog. Vor elf Jahren hat Tony Mussorfiti deshalb den Ruhestand angetreten – und sagt dennoch, er sei gut weggekommen. „Ich habe anders als viele Kollegen keine Krebserkrankung. Und ich habe 20 Jahre weiterleben dürfen.“
Er hat auch gelernt, sich nicht nach dem Trauma und dem Rentenantritt zu isolieren. Einmal im Monat trifft sich Mussorfiti mit anderen Feuerwehrleuten. Einige von ihnen waren an 9/11 im Einsatz, andere traten erst später in den Dienst ein. Sie reden über damals, aber auch News von heute. Irgendwann will sich, auch das gehört zu seinem Lebensplan, Mussorfiti hinsetzen und seine Erinnerungen zu Papier bringen. Und Philosophien, die er aus den Terrorattacken abgeleitet hat, aufschreiben. Etwa die Einsicht zur Unberechenbarkeit des Lebens. „Manchmal muss man den Nachtisch zuerst essen“, philosophiert er und meint damit: Jeden Tag genießen. Und deshalb gebe es mittlerweile auch Tage, an denen er erst an ihrem Ende bemerkt, nicht mehr an 9/11 gedacht zu haben.