Wegen Corona-PandemieKindertherapeuten warnen vor zunehmender Gewalt gegen Kinder

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  • Die Pandemie ist längst nicht überwunden. Immer noch sterben viele Menschen an Covid-19. Aber welche Folgen haben die Corona-Maßnahmen für die Psyche der Menschen – vor allem für die Kinder?

Viele Kinder erleben Gewalt und Missbrauch oder wachsen in ihren Familien ohne Liebe auf – mit schwerwiegenden Folgen für ihre Psyche. Corona verschärft die Probleme und schafft neue. Zur Situation der Kinder und Jugendlichen in Zeiten des Lockdowns befragte Dierk Himstedt den Arzt und Psychotherapeuten Manfred Nelting und dessen Sohn, Klinikleiter Fritjof Nelting.

Wie haben sich die Corona-Maßnahmen in den vergangenen mehr als zwölf Monaten der Pandemiezeit auf die Situation der Zehn- bis 18-Jährigen ausgewirkt?

Fritjof Nelting: Wir erleben in den vergangenen Monaten in unseren Kliniken, dass die Zahl der Menschen mit psychischen Problemen größer wird, insbesondere auch in unserer Kinder- und Jugend-Psychiatrie. Die Gründe sind vielschichtig: Wir haben Kinder, die unter den Kontaktverboten leiden, Jugendliche, deren Pubertätsprobleme von den Folgen der Corona-Pandemie überlagert werden, oder junge Menschen, die sich bisher über Sport definiert haben und nun seit Monaten ihrer Leidenschaft nicht mehr nachgehen dürfen. Zudem haben wir aktuell eine hohe Belastung bei den Eltern. Es gibt mehr Trennungen, mehr Streit in den Familien. Und Kinder, die vor der Pandemie bereits in schwierigen sozialen Verhältnissen lebten, bekommen es jetzt knüppeldick.

Manfred Nelting: Wenn die Eltern Angst haben, sei es wegen der Gesundheitsgefahren oder aufgrund von Existenzängsten in der Pandemie, dann bekommen auch die Kinder Angst. Und Angst, das wissen wir aus vielen Studien, beeinträchtigt die Kreativität sowie die Bereitschaft und Fähigkeit, Lösungen für Probleme im Alltag zu entwickeln. Ziellosigkeit und Antriebslosigkeit bis hin zu Depressionen sind oft die Folge. Manche Menschen blockieren komplett in solchen Situationen und meistern dann ihr normales Leben nicht mehr.

Und was tun Sie gegen diese vermehrten Ängste der Betroffenen in Ihren Kliniken?

F. Nelting: Die psychischen Probleme sind ja dieselben. Sie haben sich durch die Pandemie nur verstärkt oder verlagert. Aufgrund der nun häufiger auftretenden Angststörungen und Verlustängste passen wir die Behandlungen an diese besondere, aktuelle Alltagsproblematik an.

Wo liegen denn die größten psychischen Probleme der Kinder und Jugendlichen, die in der Corona-Krise nun noch verstärkt werden?

M. Nelting: Dazu gibt es viel zu sagen. Wir gehen davon aus, dass seit vielen Jahren etwa ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland mindestens ernsthafte und folgenschwere Gewalt- und Missbrauchserfahrungen erleiden. Diese Zahl stützt sich auf meine langjährigen Erfahrungen und die vielen Gespräche, die ich mit Experten der Polizei und aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich geführt habe, sowie auf eine hohe Dunkelziffer – also das 10- bis 15-fache der gemeldeten Fälle –, von der zum Beispiel bei den Missbrauchsfällen auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Bundeskriminalamt ausgehen.

Die Folgen sind traumatisch für die jungen Menschen und führen bei Nichtbehandlung oft zu schwerwiegenden Defiziten in ihren sozialen, emotionalen und auch kognitiven Kompetenzen. Man muss kein Hellseher sein, dass schwere Misshandlungen in den Lockdown-Monaten vor allem bei instabilen Familien, die auf engem Raum leben, noch viel öfter auftreten, als das vorher schon der Fall war.

„Gezeiten Haus“-Kliniken

Die Klinikgruppe „Gezeiten Haus“ umfasst private Fachkliniken für Psychosomatik und Traditionelle Chinesische Medizin sowie eine Akademie für Weiterbildungen, Lebenspflege und Persönlichkeitsentwicklung.  Die Standorte befinden sich in Bonn, Wesseling bei Köln, Oberhausen und Wendgräben bei Magdeburg.  Dort werden sowohl Erwachsene als auch Kinder- und Jugendliche therapeutisch begleitet.

„Mit menschlicher Begegnung und einem ganzheitlichen Behandlungskonzept unterstützen wir unsere Patienten und Patientinnen, ihre Ressourcen wieder zu aktivieren und ihre Potenziale gezielt einzusetzen“, erläutert der Medizinökonom und seit 2013 Geschäftsführer der „Gezeiten Haus“-Gruppe, Fritjof Nelting (37), das Konzept der Kliniken.  Sein Vater, Manfred Nelting (71), hat die Klinikgruppe zusammen mit seiner Frau Elke im Jahr 2004 in Bonn gegründet. Der gelernte Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Allgemeinmedizin ist Autor mehrerer medizinischer Fachbücher und weiterhin als Gesellschafter mit der „Gezeiten Haus“-Klinikgruppe eng verbunden. (dhi)

www.gezeitenhaus.de

Was gibt es daneben noch für Gründe, die zu den vorhandenen psychischen Problemen bei den Kindern führen?

M. Nelting: Ein weiteres Viertel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland leidet unter tatsächlicher oder emotionaler Vereinsamung und Vernachlässigungen. Beispiele sind viele Kinder, die in Armut aufwachsen und das im Alltag regelmäßig zu spüren bekommen, die gemobbt oder verprügelt oder dann auch selbst aggressiv werden. Aber wir sehen das auch bei allein gelassenen Kindern von Karriereeltern, bei denen der Beruf über allem steht. Diese Negativ-Erfahrungen können dazu führen, dass die Kinder wenig Selbstwertgefühl haben, sich ungeliebt fühlen, sich zurückziehen oder auffällig aggressiv werden – bis hin zu schwereren Depressionen und antisozialen Störungen.

F. Nelting: Hinzu kommt, dass die Kinder und vor allem die Jugendlichen sich mittlerweile zu einem Großteil ihrer Freizeit in den digitalen Medien aufhalten. Bei den Streaming-Diensten zum Beispiel gibt es kein Ende. Es geht immer weiter. Wenn die Kinder aber keinerlei Selbstkontrolle lernen, dann verlieren sie sich in den Serien, den Social-Media-Kanälen oder sonst wo im Internet über Stunden – manchmal bis tief in die Schlafenszeit hinein. Die Fähigkeiten zur Eigenmotivation und Entwicklung eigener kreativer Ideen bleiben dabei auf der Strecke. Diese Kinder warten stets auf den nächsten Konsum-Kick, der von außen kommt. Das sind eindeutige Kriterien für Suchtverhalten.

M. Nelting: Viele der Jugendlichen, vor allem die Jungs, erleben und konsumieren dabei, häufig ohne das Wissen der Eltern, medial sehr viel Gewalt und Sex und sehen Bilder, die sie noch gar nicht oder in einer völlig falschen Weise verarbeiten können.

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Aber was kann man heutzutage und vor allem in der Pandemie-Zeit dagegen tun?

M. Nelting: Bis zu fünf Stunden und mehr am Computer oder Handy, dazu nun noch Homeschooling: Die Kinder erleben einen medialen und digitalen Dauerzustand, ich nenne es auch eine mediale Überwältigung. Viele Experten sagen, dass ein eigenes Handy eigentlich erst ab zwölf Jahren sinnvoll ist. Dieser Zug ist in unserem Alltag aber bereits abgefahren. Daher müssen die Eltern Vorbild sein – was sie oftmals nicht sind, da sie selbst ständig am Handy hängen. Kluge Eltern setzen liebevoll in der Familie Regeln zur Handy- oder TV-Nutzung fest – wie zum Beispiel klare zeitliche Begrenzungen, kein Handy am Tisch oder wenn man miteinander spricht.

F. Nelting: Das Handy ist ja im Grunde neben den Zucker-Angeboten zu einer Super-Nanny geworden. Wenn die Eltern gestresst sind oder die Kinder quengeln, dann werden sie in vielen Familien vor dem Handy „geparkt“ und ruhig gestellt. Daher ist das keine gute Entwicklung.

Was sollte an die Stelle treten? Was raten Sie Eltern gerade in diesen schwierigen Zeiten?

M. Nelting: Ein Ausweg aus diesen Einsamkeits- und Verwahrlosungslagen in den Familien mitten in unserer Gesellschaft – mit den erwähnten Folgen von auffälligem und depressivem Verhalten der Kinder – ist ganz sicher ein liebevoller intensiver Umgang miteinander. Die Eltern sollten sich bemühen, mit den Kindern viel in der realen Welt zu unternehmen, sich wieder mal in den Arm zu nehmen und das auch bewusst zu erleben. Und die Kinder brauchen unbedingt den Kontakt mit anderen Kindern – in der Schule und in der Freizeit. Sprich, wenn wir die Zukunft meistern wollen, brauchen wir eine gesunde Balance zwischen der digitalen und analogen Welt.

Und was bieten Sie in Ihren Kliniken an, um bereits medien-auffällig gewordenen Kindern zu helfen?

F. Nelting: Der Schwerpunkt in unseren Klinik-Angeboten liegt sicher im psychotherapeutischen Bereich, um negative Verhaltensmuster zu durchbrechen. Wir fördern dabei mit Therapien aus der klassischen und chinesischen Medizin die eigene Wahrnehmung unserer Patienten. Dabei setzen wir wie beim QiGong oder den TaiJi-Bailong-Ball-Übungen auch sehr stark auf Bewegungsangebote mit bewusster Atmung. Zudem gehen wir vor allem mit den Kindern und Jugendlichen in die Natur, damit sie wieder Pflanzen und Tiere intensiv erleben.

Welche zukünftigen Auswirkungen wird die Pandemie Ihrer Meinung nach haben? Und was sollte getan werden, um die Folgen zu mindern?

M. Nelting: Vor der Pandemie war jedes vierte Kind psychisch auffällig. Wir gehen davon aus, dass es aktuell in der Pandemie jedes dritte Kind ist. Sie benötigen wieder Gemeinschaftserlebnisse – das ist das A und O. Und neben den Eltern wird den Lehrerinnen und Lehrern sowie den Kita-Betreuenden eine wichtige Aufgabe zufallen. Sie sind diejenigen, die auffällige Kinder erkennen und erste Schritte einleiten können, damit die Probleme der Kinder ernst genommen werden und man ihnen helfen kann.

F. Nelting: Alle, die mit Kindern zu tun haben, sollten achtsam und sensibel dafür sein, was Kinderseelen ausmacht, erkennen, was übermäßiger Konsum digitaler Medien anrichten kann, und nicht auf die leichte Schulter nehmen, wenn Kinder sich nicht selber kontrollieren und steuern können. Vor allem sollte man endlich viel mehr über das Leid vieler Kinder in unserer Gesellschaft reden und hilfreich handeln, wie das mein Vater in seinem neuen Buch geschrieben und völlig zurecht gefordert hat.

Buch-Hinweis: „EINSICHT in UNerhörtes“, Manfred Nelting, Mai 2021, basic erfolgsmanagement Verlag, 660 Seiten, 29,95 Euro

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