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Putins brutale „Human Safari“„Die Menschen werden sich fragen, wie die Welt tatenlos zusehen konnte“

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Ein Screenshot aus einem russischen Telegram-Video zeigt einen Drohnenangriff auf Bauarbeiter in Cherson. (Archivbild)

Ein Screenshot aus einem russischen Telegram-Video zeigt einen Drohnenangriff auf Bauarbeiter in Cherson. (Archivbild)

Der Schrecken der russischen Menschenjagd in Cherson wird erneut sichtbar. Die UN berichten von „systematischen“ Kriegsverbrechen.

Der Tod ist in Cherson immer nah. Er summt und kommt von oben. Es sind russische Drohnen, die Jagd auf Menschen in der ukrainischen Stadt und der Region rundherum machen. Wenn sich keine Menschen finden, greifen Moskaus Drohnenpiloten auch Feuerwehrautos, Rettungswagen oder Tankstellen an. Oder sie weichen ins Umland aus – so wie es nun der Fall gewesen zu sein scheint. Erneut verbreiten ukrainische Quellen eine Videoaufnahme, die den russischen Terror zeigen soll, der in Cherson längst als „Human Safari“ bekannt geworden ist.

Zu sehen ist auf dem Handyvideo ein Lkw auf einem Wassermelonenfeld, ringsherum einige Menschen. Dann ist das auf Kriegsvideos aus der Ukraine mittlerweile allgegenwärtig gewordene Summen zu hören, gefolgt von panischen Schreien. „Drohne im Anflug – rennt“ und „Nimm den Kleinen“ ruft eine weibliche Stimme den Übersetzungen zufolge. Schließlich laufen Menschen eilig über das Feld, weg vom Lkw. Kurz ist noch eine Drohne am Himmel zu sehen, bevor die Aufnahme endet.

Russische Videos: Triumphale Musik untermalt „Human Safari“

Ein anderes Video aus den letzten Tagen zeigt – untermalt mit triumphaler Musik und veröffentlicht in russischen Telegram-Kanälen – eine Drohne im Anflug auf ein Feuerwehrfahrzeug. Der Einsatztrupp wurde den Angaben zufolge zu einer Tankstelle in Cherson gerufen, die zuvor von einer anderen Drohne angegriffen worden war. Die Feuerwehrleute sollten so offenbar bewusst in die Falle gelockt werden.

Auf die als „Double Tap“ (in etwa „Doppelschlag“) bekannte Taktik setzt Russland nach ukrainischen Angaben auch bei größeren Luftangriffen immer wieder. Die zweite Angriffswelle soll dabei herbei geilte Rettungskräfte treffen. Nicht alle Attacken folgen dieser perfiden Taktik, manche scheinen auch vollkommen willkürlich zu geschehen – dann sind oftmals Zivilisten oder ihre Fahrzeuge das Ziel, wie zahlreiche dokumentierte Fälle zeigen.

UN-Bericht: Mindestens 150 Tote durch Drohnenangriffe

Die „Human Safari“ läuft in der Stadt, die von ukrainischen Streitkräften nach Russlands Invasion zunächst erfolgreich zurückerobert werden musste, immer weiter. Allein in einem zehnmonatigen Zeitraum ab Juli 2024 sind nach Angaben der Vereinten Nationen mindestens 150 ukrainische Zivilisten durch gezielte russische Drohnenangriffe in der Region getötet worden. Ukrainische Medien berichteten unterdessen über phasenweise mehrere hunderte Drohnenangriffe – täglich.

Russland scheint es bei dem ständigen Terror um die gezielte Vertreibung von Ukrainern aus Gebieten zu gehen, in denen noch viele Zivilisten leben. Einer im Juni veröffentlichten Untersuchung von Human Rights Watch zufolge veröffentlichten im letzten Jahr russische Telegram-Kanäle Karten, auf denen entsprechende Regionen rot markiert waren. In diesen „roten Zonen“ werde jedes fahrende Fahrzeug von den russischen Streitkräften angegriffen, hieß es dazu.

Russlands Terror in Cherson: „Die Drohnen jagen auch Radfahrer“

Cherson gehört zu den Gebieten, die der Kreml als „Neurussland“ bezeichnet und zum eigenen Staatsgebiet erklärt hat. Dass die Ukraine die Stadt aufgibt, gehört neben weiteren Maximalforderungen zu den von Kremlchef Wladimir Putin aufgestellten Bedingungen für einen Frieden, die weiterhin einer Kapitulation Kyjiws gleichkommen.

Der ständige Terror zeigt Wirkung in der Region. „Ich fahre nicht mit dem Auto, sondern mit dem Fahrrad, weil die Autos meiner Nachbarn alle beschädigt wurden – aber die Drohnen jagen auch Radfahrer“, zitierte die NGO eine Rettungssanitäterin aus dem Ort Antoniwka. „Die Leute gehen nur noch selten einkaufen“, schilderte die Frau weiter die Lage vor Ort. Die meisten Bewohner versuchten, das Haus nur noch so selten zu verlassen, wie möglich.

Putins Menschenjagd zeigt Wirkung: „Desorientiert und verloren“

Andere Bewohner der Region schildern die Auswirkungen der ständigen Angst – und die Folgen der Einschläge. Seit einem Drohnenangriff auf ihr Haus im letzten Jahr habe er Albträume, erklärte etwa Valerij Sukchenko, der ebenso wie seine Frau Anastasia Rusol bei der Attacke verletzt worden war. „Ich bin desorientiert und verloren“, sagte Rusol gegenüber Human Rights Watch über die Folgen der russischen Zermürbungstaktik.

„Russische Drohnen wurden mit verbotenen Antipersonenminen bestückt und für rechtswidrige Angriffe mit Brandwaffen in besiedelten Gebieten eingesetzt“; heißt es in der Untersuchung der Menschenrechtler unterdessen weiter. „Solche Angriffe gelten, wenn sie mit krimineller Absicht ausgeführt werden, als Kriegsverbrechen.“

„Sie werfen Sprengstoff von Drohnen ab, als wäre es ein Videospiel“

Zuvor hatte im Mai bereits die unabhängige Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zur Ukraine in einem neuen Bericht festgestellt, dass die russischen Streitkräfte mit Drohnenangriffen auf Zivilisten in der Ukraine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Die als „Human Safari“ bekannt gewordenen Attacken seien „weit verbreitet, systematisch und im Rahmen einer koordinierten staatlichen Politik durchgeführt worden“, heißt es in dem UN-Bericht.

„Zivilisten wurden angegriffen, wenn sie zu Fuß oder mit dem Auto ihren täglichen Aktivitäten nachgingen“, berichtete die Kommission weiter. Auch Krankenwagen sind demnach nachweislich immer wieder Ziel der Angriffe geworden.

„Sie jagen Zivilisten, die auf dem Weg zur Arbeit oder mit ihren Hunden unterwegs sind. Sie werfen Sprengstoff von Drohnen ab, als wäre es ein Videospiel“, zitierte die UN-Kommission einen Zeugen aus Cherson. Mehr als 300 Videos und rund 600 Textnachrichten seien im Kontext derartiger Angriffe untersucht worden, teilten die UN-Ermittler mit.

„In einigen Jahren werden die Menschen darüber in Wikipedia lesen“

In der Ukraine sorgen die immer wieder kursierenden Aufnahme von Putins „Human Safari“ für Entsetzen und Empörung. So nun auch das jüngste Video vom Wassermelonenfeld. „In Cherson geht die Menschensafari täglich weiter“, schrieb ein pro-ukrainischer Kriegsberichterstatter auf der Plattform X angesichts der jüngsten Berichte.

„Neue russische Drohnenpiloten trainieren, indem sie Zivilisten, Rettungskräfte und alles, was sie entdecken, ins Visier nehmen“, hieß es weiter in dem Beitrag, der reichlich Zustimmung in dem sozialen Netzwerk fand. „In einigen Jahren werden die Menschen darüber in Wikipedia lesen oder Dokumentationen sehen – und sich fragen, wie die Welt tatenlos zusehen konnte.“

Schrecken in Cherson: „Während die Welt schläft, sterben wir hier“

In der englischsprachigen Ausgabe der Online-Enzyklopädie gibt es den Eintrag „Human safari (terror campaign)“ bereits – die deutsche Entsprechung „Menschensafari (Terrorkampagne)“ fehlt derweil noch. Ein neuer Dokumentarfilm, den die amerikanische Journalistin Zarina Zabrisky gedreht hat, steht ebenfalls seit kurzem zur Verfügung. Der Film mit dem Titel „Kherson: Human Safari“ soll mehr Aufmerksamkeit auf Russlands Kriegsverbrechen gegen Zivilisten in der Region lenken.

Auch in der Doku ist der Schrecken, den die Menschenjagd verbreitet, immer wieder spürbar. „Während die Welt schläft, sterben wir hier“, sagt eine Frau in dem Film über die Situation in der ukrainischen Stadt nahe der Frontlinie. Russland würde immer behaupten, dass es „den Nazismus besiegt“ habe, sagt derweil ein Mann. „Das ist nicht wahr“, fügt er mit Blick auf die „Human Safari“ in Cherson an. „Sie haben ihn sich angeeignet.“