Kinderschutzambulanz„Wir sehen gerade viele schwer misshandelte Säuglinge und Kinder“

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Birgit Köppe-Gaisendrees ist Traumatherapeutin und leitet die Ärztliche Kinderschutzambulanz Bergisch Land e.V. in Remscheid.

Köln – „Unsere Terminkalender sind leider übervoll”, sagt Birgit Köppe-Gaisendrees, 61. Sie ist Traumatherapeutin und leitet die Ärztliche Kinderschutzambulanz Bergisch Land e.V. in Remscheid. Hier kümmert sich ein Team aus Ärzten und Therapeuten um Kinder und Jugendliche, die von körperlicher oder sexueller Gewalt und/oder Vernachlässigung betroffen sind. Hauptaufgabe der Ambulanz ist die medizinische und psychodiagnostische Abklärung von Verletzungen und Symptombildungen. Es besteht eine enge Kooperation mit dem Sana-Klinikum Remscheid, auf dessen Gelände sich die Ärztliche Kinderschutzambulanz befindet. Am Ende der Diagnostik werden Empfehlungen an Jugendämter und Familiengerichte ausgesprochen, wie den Kindern am besten geholfen werden kann, damit die Gewalt aus ihrem Leben verschwindet. Im Interview erzählt die Leiterin, dass Misshandlungen im monatelangen Lockdown zugenommen haben.

Frau Köppe-Gaisendrees, wer kommt zu Ihnen in die Ambulanz?

Birgit Köppe-Gaisendrees: Zu uns kommt leider kaum jemand präventiv oder freiwillig. Die meisten Familien sind hier, weil die Jugendämter oder Familiengerichte sie geschickt haben, damit die Kinder bei uns untersucht werden. Zu uns kommen Kinder und Jugendliche, die unterschiedliche Formen von Gewalt erlitten haben, meistens sogar mehrere gleichzeitig. Wer sexuellen Missbrauch erlebt, wird oft auch vernachlässigt. Kinder, die schwer körperlich misshandelt werden, werden häufig auch noch psychisch erniedrigt.

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Die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat im Corona-Jahr deutlich zugenommen. Viele wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. 

Was passiert mit den Kindern und Jugendlichen, nachdem sie bei Ihnen waren?

Wir geben dem zuständigen Jugendamt, den sorgeberechtigten Eltern und gegebenenfalls den Familiengerichten Empfehlungen, zum Beispiel, in einer Familie bestimmte Hilfen einzusetzen, dem Kind eine Therapie zu ermöglichen und die Eltern zu beraten. Wir bemühen uns, die Eltern gut mit ins Boot zu holen. Manchmal sind diese aber so uneinsichtig, verantwortungslos oder gefährlich, dass wir dazu raten, die Kinder eine Zeitlang aus der Familie zu nehmen.

Wie sind Ihre Erfahrungen nach einem Jahr Corona und monatelangem Lockdown?

Unsere Terminkalender sind leider übervoll. Ich finde es bizarr, dass zum Teil proklamiert wird, dass die Gewalttaten gegen Kinder in diesem Jahr nicht gestiegen seien. Wir haben in dieser Zeit ein hohes Maß von wirklich schwer misshandelten Säuglingen gesehen, also Säuglinge mit Frakturen, Verbrennungen und Schütteltraumen.

Erschütternderweise finden die meisten Misshandlungen innerhalb der Familie oder durch nahestehende Personen statt. Ohne Schule, Kita und Sportvereine fallen Verletzungen erstens weniger auf und zweitens haben die betroffenen Kinder niemanden außerhalb der Familie, dem sie vertrauen und an den sie sich wenden können. Wir befürchten, dass nach dem Lockdown noch eine große Welle auf uns zurollen wird.

Niemals schlagen! Erste Hilfe für gestresste Eltern

 Eltern sollten ihre Kinder nie schlagen oder auf andere Weise körperlich bestrafen. Gewalt ist grundsätzlich zu verurteilen. Wird sie gegen das eigene Kind gerichtet, wirkt es sich auf dessen Entwicklung aus: Das Risiko, dass es körperliche, geistige und verhaltensbezogene Probleme entwickelt, steige an, erklärt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Kinder neigen später dazu, selbst Gewalt als Lösung zu sehen. Seine Kinder zu schlagen, kann darüber hinaus rechtliche Konsequenzen haben - wer seinem Kind körperliche Gewalt antut, riskiert nicht nur das Sorgerecht, sondern macht sich streng genommen auch strafbar.

Strategien zum Runterkommen Droht ein Kontrollverlust, sollte man dem Kind sagen, dass man gerade wütend ist und kurz in ein anderes Zimmer gehen, um sich zu beruhigen. Ein weiterer Tipp ist, sich auf den Boden zu setzen und seine Atmung zu kontrollieren. Manchen hilft es vielleicht, in ein Kissen zu boxen - wichtig ist, dass man etwas tut, damit sich die Situation nicht zuspitzt.

Belastete Familien können sich auch professionelle Unterstützung suchen - der BVKJ weist etwa auf das Angebot der Bundesstiftung Frühe Hilfen hin, die Familien mit bis zu drei Jahre alten Kindern Beratung anbietet. Eine weitere Option ist das Elterntelefon der Nummer gegen Kummer unter der kostenlosen Rufnummer 0800 111 0 550.  (dpa)

Im Moment gehen die meisten Kinder ja wenigstens ab und zu in die Schule oder in den Kindergarten.

Das nützt nicht viel. Kinder vertrauen sich niemals zufällig jemandem an, sondern wägen für sich gut ab, mit wem sie darüber sprechen können. Das ist ein Prozess. Damit ein Kind so etwas von sich erzählt, muss es eine sehr sichere Beziehung zu dieser Person aufgebaut haben. Wenn ein Kind nur ab und zu in die Schule geht und dann plötzlich wieder wochenlang gar nicht, wie es in diesem Jahr ja mehrmals vorgekommen ist, verlieren Kinder die Sicherheit. Wenn sie der Lehrerin an einem Tag etwas erzählen, wissen sie nicht, ob sie in der kommenden Woche noch in die Schule gehen können. Das schafft keinen sicheren Boden.

Kindern kann man auch keine Telefonnummer geben, bei der sie anrufen können. Sie haben also gar keine Chance, sich zu äußern.

Keine ausreichende. Auch wir haben eine E-Mail-Adresse, an die Kinder und Jugendliche anonym schreiben können. Ich bin jetzt seit 30 Jahren in diesem Job und kann Ihnen sagen: Das kommt so gut wie nicht vor. Kinder schreiben keine Mail und setzen sich auch nicht ans Telefon, um einem wildfremden Menschen zu sagen, dass sie zuhause verprügelt werden. Dazu braucht es Vertrauen und Beziehung.

Kinder haben oft blaue Flecken und kleine Verletzungen. Wie erkennt man, ob ein Kind misshandelt wird?

Fragen Sie nach der Geschichte zu der Verletzung. Die meisten Kinder wissen ganz genau, wo und wie sie sich gestoßen oder das Knie aufgeschürft haben und erzählen auch gerne davon. Auch die Eltern erzählen die gleiche, nachvollziehbare Geschichte, wenn man sie fragt. Misstrauisch muss man werden, wenn ein Kind zu seinen Verletzungen keine Erklärung abgeben kann oder ängstlich und eingeschüchtert wirkt. Auffällig ist auch, wenn Kind, Mutter und Vater unterschiedliche Geschichten erzählen oder sich die Aussagen ändern. Auch bei bestimmten Körperstellen sollte man hellhörig werden. Normalerweise haben Kinder blaue Flecken an Körperstellen, die heraus stehen und an denen man sich leicht stößt: Ellenbogen, Hüfte, Schienbeine, Knie. Wenn ein Kind blaue Ohren hat, ist das schwer zu erklären. Manchmal sehen wir hier auch Kinder mit Striemen von Gürtelschnallen, Abdrücken von scharfen Gegenständen auf dem Rücken oder Verbrennungen. Es geht nicht darum, Eltern zu Unrecht zu beschuldigen, sondern um die Verpflichtung, nicht wegzuschauen.

Was macht man, wenn man bei einem Kind auffällige Verletzungen entdeckt?

Zuerst sollten Sie sich beim Kinderschutzbund, in einer Erziehungsberatungsstelle oder bei uns in der Kinderschutzambulanz beraten lassen. Jeder kann auch eine Meldung beim Jugendamt machen, das geht auch anonym.

Frauenhäuser in NRW sind überlastet

Auch die Gewalt gegen Frauen hat in der Corona-Pandemie zugenommen. Viele wissen nicht, an wen sie sich wenden oder wo sie Schutz suchen sollen. Die Frauenhäuser in NRW sind derzeit überlastet, wie Datenauswertungen für November bis Januar von CORRECTIV.Lokal ergeben haben. Der WDR wertete die Daten für Februar aus. Der Gesamtauswertung nach sind Frauenhäuser chronisch überlastet. Besonders während des zweiten Lockdowns Ende vergangenen Jahres stiegen die Belegungsquoten stark an. Welche Regionen in NRW besonders betroffen sind, erfahren Sie hier

Aus Ihrer Erfahrung: Kommt Gewalt in bestimmten Schichten besonders häufig vor?

Gewalt an Kindern ist kein Problem einer bestimmten sozialen Schicht. Misshandlung, sexuellen Missbrauch und psychische Gewalt finden Sie querbeet überall. In sozialen Brennpunkten sind viele Familien bereits beim Jugendamt bekannt. Das führt dazu, dass Misshandlungen hier schneller auffallen und auch schneller akzeptiert werden. Die Jugendämter sollen zwar jeden Fall gleich behandeln. Aber wenn eine Meldung über eine Familie kommt, in der der Vater Arzt und die Mutter Professorin ist, sind die Berührungsformen anders. Die Eltern sind hier anders aufgestellt und können sich auch anders ausdrücken.

Das heißt, dass Gewalt in reichen und gebildeten Familien seltener ans Licht kommt?

Es ist auf jeden Fall schwieriger. Hier haben wir häufig zudem das Problem der sogenannten Wohlstandsverwahrlosung. Kinder aus gut situierten Schichten mangelt es in der Regel nicht an Essen oder Kleidung. Die Kinder sind materiell sehr gut oder sogar übermäßig ausgestattet, aber die Eltern kümmern sich sonst nicht ausreichend um sie. Das ist natürlich schwerer nachzuweisen als ein Schlag mit dem Gürtel. Und ein Familienrichter würde Ihnen vielleicht sagen: „Die haben doch alles.“ Ich kann mich an einen knapp 15-jährigen Jungen in der Ambulanz erinnern, der wegen massiven Schulproblemen zu uns kam. Ich habe mit ihm gemeinsam versucht, die Namen all seiner Au-Pair-Mädchen aufzuzählen. Es ist ihm nicht gelungen. Es waren aber immer nur diese Au-Pair-Mädchen, die ihn getröstet haben, wenn er krank war oder hingefallen ist. Dafür hatte er aber immer die neuesten Computerspiele, die Jugendliche interessieren. Das war ein ganz einsamer Junge. Und genau diese Kinder übersehen wir.

Welche Fälle aus der Ambulanz sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Wir hatten mal ein Kind mit dem Abdruck eines Bügeleisens auf dem Rücken. Ein anderes Mädchen hatte verbrannte Hände und hat uns erzählt, dass ihre Mutter ihre Hände zur Bestrafung immer auf die heiße Herdplatte drückt.

Wie halten Sie das aus? Ich fahre hier manchmal abends raus, stehe zu Hause und parke und frage mich, wie ich eigentlich dahin gekommen bin. In unserem Job darf man nicht abstumpfen. Einige Dinge müssen für uns trotzdem zur Routine werden, damit wir vernünftig arbeiten können. Aber Sie bleiben auch nach 30 Jahren berührbar und müssen das auch sein, sonst funktioniert das mit dem Kindern nicht.

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