Geschlechtsoffen erziehen„Kein Kind ist irritiert, dass ich weder Mann noch Frau bin“

Lesezeit 7 Minuten
Ravna Marin Siever

„Kindern sollte die Möglichkeit gegeben werden, selbst herauszufinden, welches Geschlecht sie haben“, sagt Ravna Marin Siever.

„Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“ Diese Frage wird werdenden Eltern oft gestellt. In unserer Gesellschaft werden Kinder meist in zwei Geschlechter eingeteilt. Häufig werden damit bestimmte stereotype Attribute verknüpft, nämlich wie Mädchen und Jungen zu sein und auszusehen haben. Dabei gibt es Kinder und Jugendliche, die sich nicht so klar einer der beiden Seiten zuordnen können oder eine andere Geschlechteridentität haben, als ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde. In diesem starren Zwei-Geschlechter-Rahmen können sie selten so sein, wie sie sind. Aber auch jene Kinder, die eben kein „typisches“ Mädchen oder kein „typischer“ Junge sind, finden schwieriger ihren Platz. Durch geschlechtsoffene Erziehung soll Kindern von Anfang an mehr Vielfalt ermöglicht werden, so dass sie den Raum bekommen, herauszufinden, wer sie wirklich sind. Im Buch „Was wird es denn? Ein Kind!“ zeigt Ravna Marin Siever, wie ein geschlechtsoffener Umgang gelingen kann und alle Kinder davon profitieren. Ein Gespräch.

Was bedeutet es genau, ein Kind geschlechtsoffen aufwachsen zu lassen?

Ravna Siever: Ein Kind geschlechtsoffen aufwachsen zu lassen bedeutet, dem Kind die Möglichkeit zu geben, selbst herauszufinden, welches Geschlecht es hat. Wenn ein Kind geboren wird, weisen wir ihm ja ein Geschlecht zu und sagen: „Das ist ein Junge oder ein Mädchen.“ Und wir behandeln diese Kinder dadurch unterschiedlich, oft auch unbewusst. Geschlechtsoffene Erziehung ist der Versuch, möglichst viele Zuschreibungen zu vermeiden und sich der unbewussten Mechanismen klar zu werden.

Viele sagen ja, das Geschlecht wird uns biologisch mitgegeben. Stimmt das nicht?

Selbst in der Biologie wird diese These so inzwischen nicht mehr vertreten. Während uns weltweit historisch unterschiedlichste Ausprägungen des kulturellen und/oder religiösen Verständnis von Geschlecht bekannt sind, wurden diese durch Zwangschristianisierung und Kolonialisierung nach und nach durch das weiße, christliche zwei Geschlechter-Modell ersetzt, das Geschlecht an bestimmten körperlichen Merkmalen festmacht. Das gibt es so wie wir es heute kennen auch erst seit etwa 200-300 Jahren. 


Begriffserklärung

„trans“ - ist ein Überbegriff für Personen, die sich nicht oder nur teilweise mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht identifizieren.

„cis“- Frauen und cis Männer: Menschen, die sich mit dem bei der Geburt eingetragenem Geschlecht identifizieren.

„nicht-binär - ist ein Überbegriff für Personen, die sich nicht oder nicht ausschließlich männlich oder weiblich identifizieren . Die verschiedenen Geschlechtsidentitäten in diesem Spektrum sind sehr vielfältig.


Warum ist es für Kinder so wichtig, den Raum zu bekommen, sich selbst einer Geschlechtsidentität zuzuordnen?

Wenn einem Kind von außen etwas vorgegeben wird und das nicht passend für es ist, kann das zu einer großen Belastung werden. Aber auch wenn ein Kind cis ist, also das Geschlecht hat, das ihm zugewiesen wurde, wird es sicher in seinem Leben auf andere Kinder treffen, die nicht so sind. Sind Kinder bei diesen Themen offen, verhindert das Mobbing und Diskriminierung.

Die Zuschreibungen, die ein Kind durch das Geschlecht mitbekommt, können auch grundsätzlich einschränken. Dann heißt es: „Mädchen können kein Mathe.“ Bei der geschlechtsoffenen Erziehung versucht man, Kindern keine Zeichen in die eine oder andere Richtung zu geben und sie möglichst gleich zu erziehen.

Im Alltag aber gibt es dabei viele Hürden, angefangen bei der Rosa-Hellblau-Aufteilung in Klamottenläden…

Ja, das ist super krass. Das Gender-Marketing ist in den letzten 20 Jahren schlimmer und stereotyper geworden. Auch bei geschlechtsoffener Erziehung muss Kleidung aber nicht neutral sein. Wenn ich mit meinen Kindern in den Klamottenladen gehe, lasse ich sie selbst aussuchen. Meistens fangen sie auf der Mädchen-Seite an, weil es viel bunter ist und glitzert. Kleidung hat kein Geschlecht, wir benutzen das nur gesellschaftlich, um ein Geschlecht zu markieren. Man kann ein Kind, das ein Junge ist, genauso ein Kleid tragen lassen.

Zur Person: Ravna Marin Siever beschäftigt sich seit Jahren mit gender- und queertheoretischen Ansätzen und betreibt den Blog „queErziehung“. Siever hat drei Kinder und lebt bei Berlin.

Ich wollte meine Kinder nicht in die klassische Glitzer-Richtung schubsen. Dann kam meine Tochter aus der Kita mit ihrer Leidenschaft für Elsa. Was nun?

Kinder dürfen auch Prinzessin sein, solange das ihre Wahl ist. Eltern wundern sich oft, dass ihr Kind in einer Prinzessinnenphase ist, obwohl sie versucht haben, es neutral zu erziehen. Im Alter zwischen vier und sechs Jahren verhalten sich Kinder oft enorm rollenstereotyp. Das ist ganz normal und heißt nicht, dass das Kind keine Geschlechtsoffenheit im Kopf hat. Es lernt eben nun auch die gesellschaftlichen Normen kennen und versucht, sich anzupassen. In diesem Alter haben Kinder ein großes Bedürfnis dazuzugehören.

Wie schafft man schon früh ein geschlechtsoffenes Umfeld für Kinder?

Sobald klar wird, welches zugeschriebene Geschlecht das Baby hat, werden Kinder unterschiedlich behandelt. Mit Kindern, die für ein Mädchen gehalten werden, wird viel früher gesprochen, sogar schon im Bauch. Mit Kindern, die für einen Jungen gehalten werden, wird viel mehr gezählt. Die größte Baustelle sind die Elternköpfe. Erwachsene müssen sich das aktiv bewusst machen, um daran etwas zu ändern.

Die heutigen Eltern haben ja in der Kindheit stereotype Vorstellungen vermittelt bekommen. Vieles geben sie sicher unbewusst weiter…

Ja, ich trainiere das seit Jahren und kriege es auch nicht immer hin. Es ist ein Prozess. So wie es die ersten acht bis zehn Lebensjahre eines Kindes braucht, um dieses Zwei-Geschlechter-Modell zu verinnerlichen, dauert es mindestens genau so lange, das wieder zu verlernen.

Welche Rolle spielt die Sprache in Bezug auf Geschlechtszuschreibungen?

Am allerwichtigsten ist, wie wir mit Kindern über Geschlecht sprechen. Es geht schon los, wie wir sie ansprechen. Sagen wir zu unserem Kind „mein Mädchen“ oder „meine Kleine“, sind das Momente, in denen wir es vergeschlechtlichen. Da ließen sich auch neutrale Worte wie „Kind“ finden. Auch in Spitznamen werden oft eindeutige Assoziationen verknüpft, „Mäuschen“ und „Spätzchen“ richtet sich an kleine Mädchen, „mein Bär“ oder „mein Äffchen“ an kleine Jungen. Auch hier lohnt es sich, das mal aufzubrechen.

Wenn ein Kind Sachen sagt wie „Rosa ist für Mädchen“ oder „Jungs spielen halt mit Autos“ ist es sinnvoll, auch mal Fragen zu stellen. „Glaubst du, es stimmt, dass Jungs kein Rosa tragen dürfen?“ Auf der anderen Seite sollten Eltern Sätze vermeiden wie „Papa repariert das, weil er ein Mann ist“. Hier kann es helfen, nicht stereotype Gegenbeispiele aus dem direkten Umfeld zu suchen.


Infos für Familien: Aufklärung und Beratung für trans Kinder, deren Familien und alle, die mit dem Thema zu tun haben, gibt es beim „Trans-Kinder-Netz“ des Vereins Trakine e.V.


Wie können Eltern Kindern erklären, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt?

Ein guter Zeitpunkt ist, dann mit Kindern über solche Themen zu sprechen, wenn sie nachfragen. Dabei reicht es oft schon, ihnen zu erklären, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt und manche Kinder weder Mädchen noch Junge sind oder beides.

Sie sind selbst nicht-binär. Gab es für Sie damals den Raum, sich selbst zu finden?

In meiner Kindheit eher nicht. Erst sehr viel später habe ich diesen Raum bekommen. Als nicht-binär habe ich mich erst mit Ende 20 geoutet. Dann hatte ich auch ein Umfeld, das mich unterstützt hat.

Heute wird ja mehr über solche Themen gesprochen. Haben es Kinder leichter auf der Suche nach ihrer Geschlechtsidentität?

Ja. Es gibt heute zum Beispiel auch Jugend- und sogar Kinderserien, in der es in der Geschichte mindestens eine nicht-binäre Person gibt. Ich glaube auch, dass die heutige Jugendgeneration schon relativ weit ist, aber die aktuelle Elterngeneration eben noch nicht. Deshalb muss die heutige Jugend noch viele Kämpfe austragen.

Fällt es Kindern eigentlich schwer, Vielfalt anzunehmen?

Ich glaube Kinder sind sehr offen dafür, Vielfalt anzunehmen, wenn ihnen die Möglichkeit dazu gegeben wird. Ich habe noch kein einziges Kind im Kindergarten erlebt, das irritiert war, weil ich gesagt habe „ich bin weder Mann noch Frau“. Sie haben höchstens mal nachgefragt: „Was bist du denn dann?“ Und ich habe geantwortet: „Ich bin halt ich, ein Mensch.“ Das hat ihnen gereicht, sie haben genickt und sind spielen gegangen.

Buchtipp:  Ravna Marin Siever, „Was wird es denn? Ein Kind! – wie geschlechtsoffene Erziehung gelingt“, Beltz Verlag, 2022

Rundschau abonnieren