Deutschlands erster Lehrer im Interview„Ist der Abitur-Abschluss 2021 gleichwertig?“

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Leere Schulen, weit auseinanderstehende Tische in den Klausurräumen: So sieht die Realität für Abiturienten in diesem Jahr aus.

  • Heinz-Peter Meidinger ist seit 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.
  • Wir haben mit ihm über das vergangene Schuljahr gesprochen.

Köln – Herr Meidinger, wie blicken Sie auf das letzte Schuljahr zurück, das vollständig unter Corona-Bedingungen stattgefunden hat? Wie geht es den Schülerinnen und Schülern? Heinz-Peter Meidinger: Sie stehen unter einer großen psychischen Zusatzbelastung. Dieser Jahrgang ist doppelt betroffen: Zum einen von den Lockdown-Phasen im vergangenen Jahr, zum anderen vom neuen Lockdown seit Dezember. Im Vergleich zu den Diskussionen 2020 gab es in diesem Jahr zumindest eine große Einigkeit in der Kultusministerkonferenz (KMK) darüber, dass man die Abschlussprüfungen sicherstellt.

Das letzte Schuljahr vor dem Abitur ist sehr wichtig. Die jetzigen Abiturientinnen und Abiturienten konnten sich nicht so gut vorbereiten wie sonst. Wird das auch Auswirkungen auf die Prüfungen haben?

Es ist vollkommen klar, dass die Abschlussprüfungen dieses Jahr nicht unter normalen Bedingungen stattfinden. Weil nicht immer der gesamte Stoff der Abituraufgaben behandelt worden ist, werden die Bundesländer wohl weniger auf den Aufgabenpool des Zentralabiturs zurückgreifen. So sind sie flexibler mit den Inhalten und Daten der Prüfungen. Normalerweise sind die Aufgaben im Dezember schon fertig. Ich bin mir sicher, dass da noch Änderungen vorgenommen werden mussten, weil der Präsenzunterricht im Januar und Februar teilweise ausgefallen ist. Es soll zudem laut KMK die Möglichkeit geben, ohne Nachteile noch einmal vom Abitur zurückzutreten und noch ein Zusatzjahr in der Oberstufe einzulegen. Es wird außerdem im Abitur für die Prüflinge mehr Auswahlmöglichkeiten bei den Prüfungsfragen geben. Außerdem bekommen in einigen Bundesländern die Abiturientinnen und Abiturienten mehr Zeit zum Schreiben. Am Anspruchsniveau soll sich aber trotz allem nichts ändern.

Was halten Sie von dem Vorschlag, die Prüfungen ausfallen zu lassen und stattdessen aus den vorherigen Durchschnittsnoten eine Abiturnote zu ermitteln, wie ihn Marlis Tepe, die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), gemacht hat?

Das wäre eine Über-Kompensation gewesen. Ich hätte nicht noch einmal die Diskussion darüber begonnen, auf die Abiturprüfungen zu verzichten. Es ist nur scheinbar ein Vorteil, wenn man keine Prüfungen schreiben muss. Insgesamt haben alle davon nur Nachteile. Eine solche Maßnahme würde dem Abitur 2021 den Stempel „Corona-Abitur“ verleihen. Die Frage wird sich stellen, ob dieser Abschluss gleichwertig zu behandeln ist wie ein Abitur aus früheren oder späteren Jahrgängen, etwa bei der Studienzulassung.

Aus Ihrer Sicht: Was war der größte Nachteil, den die Abiturienten dieses Jahr hatten?

Der größte Nachteil war die Unsicherheit, auch was Terminverschiebungen anbetrifft. Durch das Distanzlernen fragten sich viele: „Kann ich das wirklich?“ Der Abgleich und Austausch mit den Mitschülern und den Lehrkräften war nicht so leicht möglich. Auch die Umstände zu Hause sind entscheidend. Wenn die Wohnung zu klein ist oder es nicht die passenden Geräte gibt, haben einige Schüler automatisch Nachteile. Diejenigen, die weniger Unterstützung zu Hause bekommen, haben es auch schwerer. Zudem ist die Ablenkung zu Hause oft größer als in der Schule. Gute Prüfungsleistungen beruhen oft auf einem perfekten Timing beim Lernen. Wenn die Prüfungen immer weiter nach hinten verschoben werden, sinkt aber bei einigen die Motivation.

Müssen die Abiturienten in diesem Jahr eigenständiger und erwachsener sein als ihre Vorgänger?

Ja, die Schülerinnen und Schüler mussten mehr eigene Verantwortung für das Lernen übernehmen. Sie konnten sich nicht darauf verlassen, dass sie an der Hand bis zur Prüfung geführt werden. Schon allein deshalb, weil die Lehrkräfte weniger direkten Zugriff auf die Abiturientinnen und Abiturienten hatten und sie weniger pushen konnten als normalerweise. Auf der anderen Seite gab es noch nie so viel Kommunikation mit den motivierten Schülern. Viele von ihnen haben auch verstärkt Kontakt untereinander gesucht, es wurden zahlreiche virtuelle Arbeitsgruppen gebildet.

Sehen Sie weitere Vorteile?

Man muss in jeder Krise auch die Chancen sehen. In einer bestimmten Weise hat Corona den Schulen einen positiven Schub gegeben, der weiter wirken wird. Die meisten Schulen haben sich nach dem ersten Chaos relativ gut auf den Distanzunterricht eingestellt, weil sie selbstständig gehandelt haben. In den Ministerien war zunächst wochenlang Funkstille, bevor eine Flut an Anweisungen kam. Die Schulen sind dadurch eigenständiger und kreativer geworden, auch der Zusammenschluss mit den Eltern ist stärker geworden. Viele haben angeboten, bei der Beschaffung von Desinfektionsmitteln oder bei der Notbetreuung zu helfen. Es war auch nie ein Problem, den Schülern klar zu machen, dass sie eine Maske tragen müssen. Es ist ein neues gemeinsames Verantwortungsbewusstsein entstanden. Das war die erste echte unkontrollierbare Naturgewalt in der Nachkriegszeit, die ungefiltert auf die Schulen durchgeschlagen hat. Nur die Kriegsgeneration musste bisher erleben, dass Schule ganz anders stattfand. Kinder und Jugendliche mussten lebenstüchtiger werden, das wird in die Zukunft wirken.

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Wenn Sie entscheiden müssten: Präsenz- oder Digitalunterricht?

Präsenzunterricht ist für mich nicht zu toppen. Aber wir haben nun auch gesehen, welche Möglichkeiten der Vernetzung und Kommunikation in den digitalen Tools stecken. Ich bin mir sicher, dass die Zielvorstellung eines digital unterstützten Präsenzunterrichts in Zukunft Fahrt aufnehmen wird. Die Mehrheit der Stunden wird im Präsenzunterricht sein, aber warum nicht die digitalen Möglichkeiten mehr nutzen? Wir haben im Verband darüber diskutiert, ob man sich in wenigen Jahren eine Stundentafel in der Oberstufe vorstellen kann, in der von 30 oder 35 Wochenstunden vier oder fünf digital sind. So könnte man beispielsweise externe Experten unkomplizierter mit einbinden. Auch für Projekte oder Wahlfächer eignen sich digitale Tools wunderbar.

Wie ist es denn den Lehrern dieses Jahr ergangen? Wie geht es ihnen?

Es gibt ja das Missverständnis, dass mit weniger Präsenzunterricht auch weniger gearbeitet werden muss. In Wirklichkeit sind die meisten Lehrer deutlich stärker an die Belastungsgrenze geraten als sonst. Sie mussten sich in viele Dinge neu einarbeiten und standen unter psychischem Druck. Alles war neu. Normalerweise hat man Routinen und Unterrichtsmaterial, auf das man zurückgreifen kann. Man weiß genau, was zu tun ist. Aber diese Routinen beruhen auf Präsenzunterricht. Wenn der nicht stattfindet, geht das Gefühl der Sicherheit verloren. Die meisten Lehrkräfte machen sich auch Sorgen um ihre Schüler, weil sie sie über viele Jahre begleitet haben. Das Abitur ist das Ziel der schulischen Laufbahn, man fühlt sich als Lehrer oder Lehrerin dafür verantwortlich, dass das klappt.

Die Unsicherheit, was als Nächstes passiert und worauf man sich dann einstellen muss, hört mit der letzten Prüfung aber nicht auf. Welche Auswirkungen hat die Zeit der Corona-Pandemie Ihrer Meinung nach über das Abitur hinaus?

In unserem Bildungswesen geht der Blick in erster Linie auf den Abschluss. Für das, was danach kommt, fehlt oft die Offenheit. Als Schulleiter hatte ich aus meinen Gesprächen mit Abiturienten den Eindruck, dass nur ein Drittel eine genaue Vorstellung für die Zeit nach dem Abi hat. Ein Drittel hatte vage Vorstellungen, das letzte Drittel hatte absolut keinen Plan. Es kann durchaus sein, dass die Quote derer, die nicht wissen, was sie machen sollen und erstmal eine Pause einlegen, in diesem Jahr höher ist als sonst.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was müsste sich für guten Unterricht in Zukunft ändern? Welche Lehren können wir aus der Corona-Zeit ziehen?

Da reicht ein Wunsch nicht aus. Das ist ein großes Bündel an Maßnahmen. Man hat gesehen, dass das Krisenmanagement im Bereich Bildungspolitik eher schlecht funktioniert – und zwar auf allen Ebenen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Digitalpakt. Bis heute ist es nicht gelungen, mehr als fünfzehn Prozent der Mittel an die Schulen zu bringen, obwohl der Pakt mittlerweile fast zwei Jahre alt ist. Das muss man ändern. Auch die Dezentralisierung im Föderalismus, die eigentlich ein Vorteil sein soll, hat sich bei der Krisenbewältigung jetzt als Nachteil erwiesen. Die Vermengung von Entscheidungsstrukturen zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Gesundheitsbehörden sowie das Vorpreschen oder Ausscheren einzelner Bundesländer bei bestimmten Regelungen haben für viel Chaos gesorgt. Wir müssen zu deutlich effektiveren Entscheidungsstrukturen kommen. Gegebenenfalls muss man auch nochmal ans Grundgesetz ran, wenn ein parteiübergreifender Konsens möglich ist.

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