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InterviewWas machen wir falsch, wenn es immer an Zeit mangelt, Teresa Bücker?

Lesezeit 7 Minuten
Teresa Bücker

Wie viel freie Zeit uns zur Verfügung steht, das ist eine Frage der Gerechtigkeit, sagt Teresa Bücker.

Ständig herrscht Zeitnot. Immer mehr Eile ist da aber keine Lösung. Zeit müsste in der Gesellschaft neu verteilt werden, sagt Teresa Bücker.

Die Zeit lässt sich bekanntlich nicht aufhalten. In unserer eng getakteten Welt ist sie ein sehr knappes, kostbares Gut. Und doch scheinen manche viel mehr davon zu haben als andere. Wie frei wir unsere Zeit gestalten können, ist kein persönliches Anliegen, sondern eine gesellschaftliche Frage von Macht und Gerechtigkeit, sagt die Journalistin Teresa Bücker. Ein Gespräch.

Im Alltag mit Jobs und Kindern haben mein Mann und ich ständig das Gefühl, die Zeit reicht einfach nicht, um alles zu schaffen. Was machen wir falsch?

Teresa Bücker: Sie machen gar nichts falsch. Wenn man Kinder hat oder Angehörige pflegt und zusätzlich noch berufstätig ist, dann reicht die Zeit de facto nicht. Man muss sehr viele Aufgaben übernehmen und füllt die Zeit nach der Erwerbsarbeit mit Kümmern. Ein Blick auf die Tagesstruktur macht deutlich: Ein Familienleben mit Erwerbsarbeit ist eigentlich nicht ohne Stress und Überforderung zu leisten.

Zumindest fällt aus Zeitmangel vieles hinten herunter …

Es ist traurig, wie sehr unsere Lebensqualität durch die derzeitige Zeitkultur eingeschränkt wird. Sehr vielen Leuten, besonders Eltern mit kleinen Kindern, fehlt im Alltag konkret die Zeit zu schlafen, Sport zu machen und sich ausgewogen zu ernähren. Das hat natürlich negative gesundheitliche Effekte. Auch zivilgesellschaftliches Engagement und Zeit mit Freunden wird immer weniger, weil Menschen in der flexiblen Arbeitswelt oft abends und am Wochenende gebunden sind. Erst Richtung Rentenalter fangen viele wieder an, sich mehr zu bewegen und ihren Hobbys Zeit zu schenken.

Man wartet also darauf, am Lebensende endlich mal Zeit zu haben?

Genau. Vieles im Leben wird immer weiter nach hinten geschoben, weil im Moment keine Zeit dafür ist. In Untersuchungen wurde jedoch festgestellt, dass Menschen viele Vorhaben in der Rente oft gar nicht realisieren. Auch Hobbys und Kontakte müssten eigentlich schon vorher angelegt werden, damit sie im Alter dann weitergeführt oder ausgebaut werden können.

Jetzt hat ein Tag nur eine begrenzte Stundenzahl. Sollte man noch schneller, noch mehr in die vorhandene Zeit pressen?

Darunter leiden dann oft die sozialen Beziehungen und man hängt in der Überforderung fest. Die ständige Beschleunigung in allen Lebensbereichen ist einfach nicht möglich. Wir sind ja Lebewesen und nicht auf die gleiche Art optimierbar wie Maschinen in der technologischen Welt – besonders wenn es um die Beziehung zu Menschen und um Care-Arbeit (Anm. d. Red.: Sorgearbeit) geht. Vor allem die Zeit mit Kindern bleibt unberechenbar und lässt sich nicht wirklich planen. Wer kann schon voraussehen, wie schnell sich ein Kind morgens anzieht und abends einschläft? Wir sollten uns also bewusst machen, dass Care-Arbeit ein ganz anderes Tempo hat als Erwerbsarbeit.

Wie lässt sich die Zeit für Care-Arbeit dann messen?

In unserer Gesellschaft liegt der Schwerpunkt auf der Erwerbsarbeit. Die Zeit dafür wurde quantifiziert und festgelegt. Jeder weiß, dass Vollzeit acht Stunden bedeutet. Wie viel Zeit aber für Sorge-Tätigkeiten aufgebracht werden muss, davon gibt es bisher keine genaue Vorstellung. Das liegt im persönlichen Ermessen. Es sollte unbedingt gesellschaftlich betrachtet werden, wie viel Zeit diese Lebensbereiche brauchen, damit sie wirklich für alle machbar bleiben.


Buchtipp: Teresa Bücker, „Alle Zeit – eine Frage von Macht und Freiheit“, Ullstein Buchverlage, 400 Seiten, 21,99 Euro

Teresa Bücker ist Journalistin und Autorin. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des SZ-Magazins. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins EDITION F.


Warum ist das bisher nicht passiert, hat Care-Arbeit keine Lobby?

In unserer Gesellschaft stehen jene Menschen im Fokus, die ohnehin gut zurechtkommen: erwachsene, gesunde, gut gebildete Menschen. Kinder, Alte und Kranke dagegen, die auf die Hilfe anderer angewiesen und somit in der schwächeren Position sind, stehen in der Priorität weiter unten. Es wird davon ausgegangen, dass man sich nebenher um sie kümmern kann und diese Aufgabe nicht die Gesellschaft betrifft.

Sorge-Verantwortung wird teilweise gar nicht als Arbeit betrachtet, oder?

Ja, in der Regel wird unter dem Begriff „Arbeit“ nur „Erwerbsarbeit“ verstanden. Dadurch werden alle anderen Tätigkeiten abgewertet, sowohl finanziell als auch in der Wertschätzung. Was uns als Gesellschaft zusammenhält und unsere Demokratie stabilisiert, ist aber sehr viel mehr als Erwerbsarbeit, darunter fallen unverzichtbare Dinge wie Care-Arbeit und soziale Beziehungen, aber auch politisches Engagement oder Umweltschutz. Das alles sollte gesellschaftlich organisiert werden. Und es müsste diesen Bereichen mehr Zeit eingeräumt werden. Dann würden sich auch die Machtverhältnisse umkehren: Es ginge dann zuerst darum, alle gut zu versorgen.

Heute hat dagegen der Vollzeit-Job das beste Image. Warum eigentlich?

In den meisten Industrienationen ist Identität stark an die Erwerbsarbeit gekoppelt. Viel zu arbeiten, ist anerkannt. Dabei hat die Qualität einer Arbeit nichts mit der Arbeitsdauer zu tun. Auch in 25 Stunden lassen sich hervorragende Ergebnisse liefern. Vieles kommt ja über Erfahrung und Talent. Man könnte es sogar so betrachten: Menschen in Teilzeit, die ein ausgewogeneres Leben mit Pausen und Hobbys haben, bekommen dadurch Energie und Ideen und können oft mehr leisten.

Welche Menschen können denn heute schon freier über ihre Zeit verfügen als andere?

Menschen unterer Einkommensgruppen sind weniger frei darin, ihre Zeit einzuteilen, weil sie oft keine Homeoffice-Option haben und mehr Zeit für Arbeitswege aufwenden müssen. Auch innerhalb von Hierarchien können Menschen unterschiedlich frei über ihre Zeit verfügen. Eine Führungskraft kann sich Arbeitszeit leichter einteilen. Mitglieder hoher Einkommensgruppen können aber nicht unbedingt besser über ihre Zeit verfügen. Sie neigen dazu, ihre Tage vollzupacken und sind wiederum abhängig von der Zeit anderer, weil die ihre Kinder betreuen und ihre Wohnung putzen.

Sie kaufen sich Zeit ein …

Das sagt sich so leicht. Es wird oft behauptet, das Vereinbarkeitsproblem wäre gelöst, wenn man sich Hilfe dazu kaufen könnte. Doch man erwirbt diese Arbeitszeit ja immer von einer anderen Person: Es sind die Putzkräfte und Paketboten, die diese schlecht bezahlten Dienstleistungen übernehmen. Bei ihnen wird dadurch Zeitarmut erzeugt. Zudem wird die soziale Ungleichheit verstärkt.

Wie könnte konkret eine gerechtere Zeitkultur aussehen?

Wir müssen uns fragen, wie viel Erwerbsarbeit genug ist. Es sollte demokratisch eine Wochenarbeitszeit ausgehandelt werden, indem viele unterschiedliche Perspektiven einbezogen werden. Klar ist, dass Menschen mit Sorge-Verantwortung eine zeitliche Entlastung brauchen. Sie müssten mit weniger Erwerbsarbeit ihre finanzielle Existenz sichern können. Auch die strukturelle Zeitnot von Familien müsste angegangen werden. Besonders Mütter haben im Alltag oft lange, komplexe Wegketten. Durch Mobilität und Stadtplanung müssten kürzere Wege zu Kitas, Ärzten und Supermärkten gewährleistet werden.

Es ist bereits etwas in Veränderung: Immer mehr junge Menschen wählen freiwillig eine Vier-Tage-Woche. Macht Ihnen das Hoffnung?

Ich finde es toll, dass junge Menschen weniger arbeiten wollen und das inzwischen auch selbstbewusst in Jobverhandlungen einfordern. Es ist wirklich etwas im Umbruch. Die Frage ist, wie nachhaltig das bleibt. Damit ein solches Zeitkonzept wirklich trägt und nicht nur Gutverdiener sich eine Vier-Tage-Woche leisten können, müsste sich die jüngere Generation gewerkschaftlich organisieren. Ich hoffe, es gibt auch ein politisches Interesse daran, das zu gestalten.

Viele Ältere stehen der Forderung der Jungen nach kürzeren Arbeitszeiten skeptisch gegenüber …  

Ich kann das verstehen, denn es ist ja auch ein Angriff auf ihr eigenes Lebensmodell. Die Generationen sollten dringend mehr miteinander darüber in den Austausch gehen. Und ich hoffe, es wird anerkannt, dass sich in der jüngeren Generation die Bedürfnisse und Werte verschieben und sie anders leben wollen, auch weil die Zukunft so ungewiss ist. Und um den Bogen zu schlagen: Mit einer Vier-Tage-Woche könnten nicht nur Erwerbs- und Familienzeit leichter vereint werden, es wäre auch eine echte Chance für mehr Gleichberechtigung innerhalb der Partnerschaft.

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