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Das Beste aus 2023ADHS als Erwachsene „Endlich hatte ich den Beweis, ich bin nicht faul, auffällig oder dumm“

Lesezeit 6 Minuten
Porträt der Journalistin Angelina Boerger

Die Journalistin Angelina Boerger hat ADHS.

Die Journalistin Angelina Boerger hat erst mit 29 Jahren erfahren, dass sie ADHS hat. Warum das so typisch ist. 

ADHS? Das haben doch nur kleine Jungs in der Grundschule, die nicht still sitzen und sich nicht konzentrieren können. So lautet die gängige Meinung. Doch das ist falsch. Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betrifft Mädchen genauso, sie haben nur meistens andere Symptome als Jungs. Auch Erwachsene können ADHS haben. Vor einiger Zeit sprach die Moderatorin Sarah Kuttner ganz offen über ihre Diagnose, die sie erst als Erwachsene erhalten hat. Auch die Journalistin Angelina Boerger aus Aachen fand erst mit 29 heraus, dass sie ADHS hat und hat mit „Kirmes im Kopf“ nun ein Buch darüber geschrieben. Im kommenden Jahr geht sie auf Lesetour und kommt am 15. April auch nach Köln in die Volksbühne am Rudolfplatz. Karten gibt es ab 29,20 Euro hier zu kaufen. 

Eine Domian-Sendung brachte den Durchbruch

Ihr Leben lang glaubt Angelina Boerger, einfach chaotisch zu sein, bis sie eines Tages in einer Domian-Sendung eine ADHS-Betroffene sprechen hört und plötzlich ahnt: „Das habe ich auch!“ Anfangs findet sie keinen Arzt, der sich mit ADHS auskennt und sie untersuchen kann. Als sie endlich eine Ärztin findet, muss sie jede Menge Unterlagen und Bögen ausfüllen und persönliche Gespräche führen. Außerdem müssen ihre Hausärztin und ein Neurologe ausschließen, dass andere Ursachen vorliegen, die einer ADHS ähnliche Symptome aufweisen könnten. All das bringt Boerger hinter sich, elektrisiert davon, endlich dem Grund für ihr Verhalten auf der Spur zu sein. Und schließlichs hat sie es schwarz auf weiß: „Diagnose F90.0 ADHS im Erwachsenenalter, kombinierter Typus.“


Dieser Text gehört zu unseren beliebtesten Inhalten des Jahres 2023 und wurde zuerst am 10. April veröffentlicht. Mehr der meistgelesenen Artikel des Jahres finden Sie hier.


Diesen Moment in ihrem Leben beschreibt sie so: „Ich wollte wirklich die ganze Welt umarmen. Endlich hatte ich den eindeutigen Beweis, dass ich nicht einfach nur faul, ungezogen, anstrengend, auffällig, unmotiviert, unzuverlässig oder dumm war. Es gab tatsächlich eine neurologische Erklärung für all die Situationen und Momente, Gefühle und Emotionen, Erlebnisse und Gedanken, für die guten und vor allem für die weniger guten.“ 

Freunde verschwinden immer wieder aus der Aufmerksamkeitsspanne

Zu den weniger guten Erfahrungen gehören für sie die vielen Tage, an denen sie sich immer wieder ablenken lässt. Eine typische Situation ist die: Sie will Wäsche aus der Maschine holen und aufhängen, sieht unterwegs aber etwas, das interessanter erscheint. Also bleibt sie an der neuen Sache hängen, bis ihr etwas noch Interessanteres über den Weg läuft und sie am Abend mit sehr vielen angefangenen Sachen da steht.

Diese Aufmerksamkeitssprünge kommen nicht nur bei Dingen, sondern auch bei Menschen vor. „Es passiert mir leider oft, dass ich eine gute Zeit mit Freundinnen habe und mich danach trotzdem zwei Monate lang nicht melde. In dem Moment, wo ich die Leute treffe, bin ich voll dabei und meine Emotionen sind total da. Aber sobald ich wieder im Alltag bin, verschwinde ich wieder in meine eigene Welt“, beschreibt Boerger eine typische Situation. „Meine Freunde mussten lernen, damit umzugehen. Ich wiederum musste begreifen, dass ich keine klassische Freundin für sie sein kann, weil ich nicht konstant zur Verfügung stehen kann“, sagt Boerger. Und weiter: „Freunde müssen nicht jedes Verhalten tolerieren. Aber sie sollten verstehen, dass ADHS die Begründung dafür ist und dass man gemeinsame Strategien finden muss, um damit umzugehen.“

„Ich bin ausgeglichener und es ist ein bisschen weniger Kirmes im Kopf“

Nach ihrer Diagnose bekommt Angelina Boerger Medikamente. Sie nimmt das Amphetamin-Derivat Elvanse Adult mit dem Wirkstoff Lisdexamfetamin und beschreibt ihre Erfahrung damit so: „Ich bin ausgeglichener und es ist ein bisschen weniger Kirmes im Kopf. Ich nehme meine Stimmungsschwankungen nicht mehr ganz so intensiv wahr. Es hilft mir dabei, meine Sachen besser hinzubekommen. Aber es ist kein Wundermittel, das man sich einwirft und dann läuft plötzlich alles super.“

Neben all den Problemen sieht Boerger auch Positives bei Menschen mit ADHS. „Wir können Stimmungen sehr gut wahrnehmen, sind begeisterungsfähig, fantasievoll und euphorisch. Das kann eine Chance in Beziehungen und im Beruf sein, wenn man uns versteht und richtig behandelt.“ Ihrer Erfahrung nach fühlen sich Menschen mit ADHS in kreativen oder sozialen Jobs wohl. Berufe mit plötzlich eintretenden Stress-Situationen wie im Rettungsdienst oder bei der Feuerwehr könnten sie sogar besser als andere ausüben, weil sie sich in Ausnahmesituationen besonders gut konzentrieren könnten. 

Was ist ADHS?

Bei ADHS handelt es sich um eine neurochemische Veränderung im Gehirn. Die Wissenschaft geht davon aus, dass zu wenig der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin produziert werden beziehungsweise nicht in ausreichender Menge dort ankommen, wo sie sollen. Astrid Neuy-Lobkowicz ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie in München und spezialisiert auf die Behandlung von ADHS. Sie beschreibt die Kernsymptome in einem Interview mit dieser Zeitung so: „Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, dazu kommen Stimmungsschwankungen und Impulsivität. Betroffene können schnell wütend werden und schnell frustriert sein, aber sie können sich auch sehr freuen.“

Erwachsene wissen oft nicht, dass sie ADHS haben

Meist wird ADHS mit Kindern in Verbindung gebracht, aber schätzungsweise 2,5 Millionen Erwachsene sind in Deutschland ebenfalls davon betroffen. Oft ist es schwierig, die Störung im Erwachsenenalter zu erkennen, da Symptome sich verändern, nachlassen oder als Persönlichkeitsmerkmale abgespeichert werden. 

Mädchen und Frauen verstecken oft die Symptome

Mädchen und Frauen sind genauso von ADHS betroffen – sie fallen nur nicht so auf. Bei ihnen ist die körperliche Unruhe meist nicht so stark ausgeprägt, zudem können sie die Symptome besser verstecken. „Sie laufen nicht dauernd herum oder fallen im Unterricht dreimal mit dem Stuhl um. Sie sind eher verpeilt, verträumt oder schüchtern“, erklärt Angelina Boerger. 

Gefahr von Folgeerkrankungen oder Störungen 

Wenn ADHS nicht diagnostiziert wird, können andere Folgeerkrankungen oder Störungen wie zum Beispiel Süchte, Ängste, Essstörungen oder Depressionen entstehen. Häufig würden nur die Depressionen oder Angststörungen diagnostiziert und das darunter liegende ADHS wird nicht erkannt. 

Wie wird ADHS diagnostiziert?

Das Problem ist laut Neuy-Lobkowicz, dass nur wenige Fachärzte und Psychologen sich mit ADHS auskennen und es diagnostizieren und störungsspezifisch behandeln können. Wichtig bei der Diagnose sei, dass die Symptome sich durch das ganze Leben der Betroffenen ziehen. „Natürlich ist jeder mal schlecht gelaunt und impulsiv. Bei der Diagnostik ist gefordert, dass man diese ganzen Symptome auch bereits im Kindesalter schon hatte“, erklärt die Fachärztin.

Medikamente können helfen, das Gehirn zu beruhigen

Medikamente, beispielsweise mit dem Wirkstoff Methylphenidat, erhöhen den Dopaminspiegel im Gehirn und helfen Menschen mit ADHS dadurch, sich besser zu konzentrieren und ruhiger zu werden. Nach den Leitlinien der Bundesärztekammer werde eine medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat und Dexamphetamin empfohlen, so Neuy-Lobkowicz. 

Zum Weiterlesen

Angelina Boerger: Kirmes im Kopf. Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe, Kiepenheuer & Witsch, 303 Seiten, 18 Euro Christine Carl/Ismene Ditrich/Christa Koentges/Swantje Matthies: Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S. Warum sie so besonders sind und was sie stark macht, Beltz-Verlag, 239 Seiten, 20 Euro

Veranstaltung in Köln Angelina Boerger kommt mit „Kirmes im Kopf“ am Montag, 15. April 2024, ab 20 Uhr in die Volksbühne am Rudolfplatz. Karten gibt es ab 29,20 Euro hier zu kaufen.

ADHS auf Instagram Angelina Boerger betreibt unter dem Namen @kirmesimkopf auch einen eigenen Instagram-Kanal sowie mit www.kirmesimkopf.de eine Homepage rund um das Thema ADHS im Erwachsenenalter.  Auf @the.unnormal.brain schreibt Lisa über ADHS bei Erwachsenen. Nessa erzählt auf @nessadhs über das tägliche Leben mit ADHS. 

Hier finden Sie Hilfe

Verein ADHS Deutschland e. V. Selbsthilfe und Beratung für Menschen mit ADHS Rapsstraße 61 13629 Berlin 030/85 60 59 02 www.adhs-deutschland.de

Ratgeber ADHS – Infoportal für Erwachsene mit ADHS www.adhs-ratgeber.com

Zentrales ADHS-Netz mit Sitz in Köln: Bundesweites Netzwerk zur Verbesserung der Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS  Universitätsklinikum Köln Koordination: Lea Sulprizio Pohligstraße 9 50969 Köln 0221/47889876 www.zentrales-adhs-netz.de


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