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Mehr als eine Sex-AppWie Tinder die Suche nach der Liebe verändert

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Die Hoffnung bei den Nutzer ist groß, über die Dating-App Tinder die große Liebe zu finden. 

  • Das nächste Date ist auf Tinder nur einen Wisch entfernt. Auf der Dating-App suchen viele Sex und andere die große Liebe.
  • Doch was passiert mit uns, wenn wir auf der Suche nach Liebe durch eine App wischen?
  • Zwei Psychologinnen haben Tinder zum Forschungsprojekt gemacht und Erstaunliches über die Nutzer der Dating-App herausgefunden.

Köln – „Das Unverbindliche an der App hat mich auf Dauer gestresst“, sagt Thomas. Wer wie der 38-Jährige Tinder nutzt, muss schließlich damit rechnen, dass die Frau, mit der er gerade schreibt, vielleicht auch gleichzeitig noch mit anderen Männern kommuniziert oder sich mit anderen trifft.

Wohl kaum ein Nutzer der Dating-App schreibt nur mit einer einzigen Person. Das widerspräche dem Prinzip von Tinder. Das funktioniert ähnlich wie Online-Shopping: Statt mit einem Klick die Jeans in den virtuellen Einkaufswagen zu legen, wählt der Nutzer mit einem Wisch nach rechts oder links aus, ob er eine Frau oder einen Mann in der App als „heiß“ oder „nicht heiß“ bewertet. Schenkt die oder der Auserwählte ihm auch ein „ja“, können sich beide Nachrichten schreiben und sich verabreden. Die Entscheidung fällt innerhalb weniger Sekunden aufgrund eines Profilbildes und einer kurzen Beschreibung. 

Auf die große Liebe bei Tinder hoffen viele insgeheim

Einen neuen Partner über die Dating-App zu finden, daran glauben die wenigsten Nutzer. Doch auf die große Liebe bei Tinder hoffen viele trotzdem insgeheim, haben die Psychologinnen Johanna Degen und Andrea Kleeberg-Niepage von der Europa-Universität Flensburg bei ihrem Forschungsprojekt „Hot or Not“ (zu deutsch: heiß oder nicht) herausgefunden.

Mit ihrem Team haben die beiden Wissenschaftlerinnen 250 Profilbilder analysiert, 2651 Fragebögen ausgewertet und 70 qualitative Interviews geführt, um herauszufinden, wie Nutzer ihre Profilbilder auswählen, warum sie sich bei der App anmelden und wie es ihnen dabei geht.

Idee zum Forschungsprojekt entsteht bei der Anmeldung auf Tinder

Auf die Idee zu dem Forschungsprojekt kommt die 33-jährige Johanna Degen, als sie sich eines Abends selbst bei Tinder anmeldet. „Das erste Foto, das mir angezeigt wurde, war ein mittelalter Mann mit nacktem Oberkörper, der einen großen Fisch vor seiner Brust trägt.“ Sie kam ins Grübeln und schickte ein Bildschirmfoto an Andrea Kleeberg-Niepage. Auch die 49-Jährige war schnell begeistert von der Idee, sich wissenschaftlich mit der App auseinanderzusetzen.

„Warum zeigen sich Menschen in dieser merkwürdigen Weise auf Tinder“, fragten sich die beiden Psychologinnen. „Der Mann mit nacktem Oberkörper und Fisch in der Hand scheint mit diesem Profil Erfolg zu haben, sonst würde er sich nicht in so einer Weise präsentieren”, erklärt Degen. Ein individuelles und kreatives Bild sei jedoch eher selten in der App. Meistens seien die Profilfotos sowohl von Männern als auch von Frauen eher maskenhaft, mit wenigen Hinweisen auf die Person. 

Frauen zeigen sich bei Tinder oft mit Haustieren, Männer mit Sportgeräten 

Große Unterschiede zwischen den Geschlechtern gebe es nicht. Frauen zeigen sich eher mit Haustier oder mit Accessoires wie Schmuck. Männer setzen sich lieber mit Sportgeräten in Szene, haben die Psychologinnen beobachtet. Einziger auffallender Unterschied: Frauen nutzen häufiger Filter.

Und beide Geschlechter sitzen Klischees auf. Denn Männer, die sich mit Statussymbolen wie Autos oder teuren Uhren präsentieren, kommen bei Frauen nicht so gut an. Und Frauen, die viel nackte Haut zeigen, sind bei den Männern unbeliebt, hat die Studie zutage befördert. Eigentlich wünschen sich die Nutzer der Tinder-App authentische Bilder, doch erst ab dem Alter 50 plus wählen Männer und Frauen eine ehrlichere Darstellung. 

„Mir war es wichtig, dass Frauen authentisch aussehen, war das nicht der Fall, habe ich weiter gewischt“, erzählt auch Thomas. Der Kölner hat seine Liebe tatsächlich auf Tinder gefunden. Vor sieben Monaten hat er seine Freundin über die App kennengelernt. „Es hat voll Spaß gemacht mit ihr zu schreiben, also haben wir uns schnell getroffen, auf ein Feierabendgetränk an einem Büdchen“. Vorher habe er eigentlich nicht daran geglaubt. „Viele Jungs und Mädels nutzen Tinder, weil es so einfach ist und die Anonymität im Internet macht es leider oft unverbindlich. Und viele sind nicht auf der Suche nach einer Beziehung“.

Forscherinnen: Tinder ist weder unkomplex noch oberflächlich

Das Vorurteil, Tinder-Nutzer sind oberflächlich und nur auf Sex aus, finden die Wissenschaftlerinnen in ihrer Studie nicht bestätigt. Die Motive, die App zu nutzen, seien komplexer. „Sex ist das Minimum für die Nutzer“, sagt Johanna Degen. „Viel wichtiger ist es den Befragten, dass sie wieder ein Kribbeln spüren, eine ernsthafte Beziehung finden oder wieder etwas fühlen.” Auch Neugier oder über den Ex-Partner hinwegzukommen seien häufige Gründe, bei Tinder angemeldet zu sein. Und, das überraschte die Wissenschaftlerinnen: 46 Prozent der Befragten gaben an, bereits in einer Beziehung oder Ehe zu sein. Allerdings gewinne man auf Tinder durch ein Bild natürlich einen weniger umfassenden Eindruck als in einer Bar, in der Bahn oder im Supermarkt, wenn man auch Gestik und Mimik einer Person betrachten könne. 

„In einer Bar schaue ich bei einer Frau auch zuerst auf das Äußere, da entspricht die App einfach der Realität“, sagt Marc, der anonym bleiben möchte und eigentlich einen anderen Namen hat. Die App sei praktisch, weil sie so effizient ist. Und sie habe einen ganz klaren Vorteil gegenüber herkömmlichen Dates: Im Alltag lerne man Frauen eher über Freunde kennen. Dabei passiert es leicht, dass das Gegenüber Verabredungen nicht für Rendezvous hält, sondern es bei einer platonischen Beziehung bleibe. „Bei Tinder ist jedem klar, dass es sich bei einer Verabredung um ein Date handelt.“

Thomas steht der Dating-App kritischer gegenüber. Bevor er seine Freundin getroffen hat, entpuppte sich manch ein Tinder-Date als Mogelpackung. War die Frau beim Chatten noch schlagfertig und lustig, fragte er sich, ob sie die Nachrichten überhaupt selbst geschrieben hatte. Denn das Date war weder witzig noch sonst irgendwie spannend. Das wäre im analogen Leben wohl nicht so passiert. 

Tinder wird auch als Belastung gesehen

Dass die App auch stressen kann, empfindet nicht nur Thomas so. Nutzer haben den Psychologinnen Degen und Kleeberg-Niepage geschildert, dass sie die App zeitweise gelöscht haben, weil sie sie zu stark belastet. Viele sind ständig auf der Suche nach einem noch besseren Treffer. 95 Prozent Passung sei vielen Nutzern nicht mehr genug, weil es hypothetisch auch ein „Match“ mit 100 Prozent geben könnte. „Wenn ein Date nicht gut läuft, schauen einige Nutzer auf der Toilette oder unter dem Tisch bei Tinder, ob sie für den Abend nicht doch noch eine bessere Partie finden“, schildert Johanna Degen.

Neben der Unverbindlichkeit, mache auch die große Auswahl und die Schnelligkeit den Nutzern zu schaffen. Andrea Kleeberg-Niepage beschreibt, dass sich Nutzer deswegen Strategien zurechtlegen, die Masse an potentiellen Partnern oder Partnerinnen zu bewältigen: Manche Nutzer entwerfen Standard-Texte, die sie jedem „Match“ senden. Ein Nutzer erzählte, dass er erstmal alle Profile like und später schaue, wem er nachträglich sein „ja“ wieder entziehe.

Dieses sogenannte „unmatchen“ ist wiederum für viele enttäuschend und verletzend. Ein Nutzer erzählte den Forscherinnen im Interview: „Ich war sogar schon verabredet, dann wurde ich einfach kommentarlos ‚unmatched‘. Das hängt mir heute noch nach.“

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Reflektierter Umgang mit negativen Verhaltensweisen

Dabei ist Nutzern ihr schwieriges Verhalten auf Tinder durchaus bewusst, schildert Forscherin Johanna Degen. Viele finden es schade, dass sie immer weiter auf der Suche nach einem besseren Date sind. Oder sie bemerken sogar, dass sie unhöfliche Verhaltensweisen wie das „unmatchen“ in die analoge Welt übertragen.

„Irgendwie ist es auch bizarr, wie viel Macht man hat, wenn man Tinder nutzt. Innerhalb von wenigen Sekunden entscheide ich, ob ich einer Frau, die Chance für einen Kontakt einräume oder nicht“, sagt Marc. Manchmal fühle es sich dadurch so an, als ob die Frauen Schlange stehen würden. Gerade, wenn man die App aus Langeweile nutze, sei es eine Art Machtgefühl, in nur weniger Sekunden unzählige Frauen bewerten zu können. 

Nutzung der Dating-App mit Scham behaftet

Und obwohl weltweit 5,7 Millionen Menschen Tinder nutzen, so richtig gerne sprechen die meisten nicht darüber.Vielen ist es peinlich, bei der App angemeldet zu sein, lautet ein Fazit der Forscherinnen Degen und Kleeberg-Niepage. Und auch Thomas erzählt längst nicht jedem, wo er seiner Freundin begegnet ist. „Wir haben eine alternative Kennenlerngeschichte und erzählen, dass wir uns im Supermarkt über den Tiefkühlerbsen getroffen haben.“ 

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