Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Die Hölle im „Paradies“

Lesezeit 3 Minuten

RHEIN-SIEG-KREIS - Es war „ein Tante-Emma-Laden nach Maß“ und einer der letzten weit und breit in Siegburg und Umgebung. Beachtlich war nicht nur die große Auswahl, sondern auch der Service wie die Lieferung nach Hause. Freundliche Damen, meist schon etwas in die Jahre gekommen und an ihren strengen Frisuren als Mitglieder der „Privaten Socialen Mission“ erkennbar, bedienten die Kundschaft.

Damit aber war dann endgültig Schluss am 31. Oktober 1989. Das Lebensmittelgeschäft an der Mühlenstraße in Siegburg wurde geschlossen, das Personal ging nach Chile, wo Angehörige schon Jahrzehnte lebten - in der sektenähnlichen „Colonia Dignidad“ um den berüchtigten Paul Schäfer ungefähr 350 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile. Ein Jahr später wurde die Gesellschaft beim Siegburger Amtsgericht aus dem Vereinsregister gestrichen, und Paul Schäfer wieder einmal zum gesuchten Mann, dem unter anderem in Südamerika gemeinsame Machenschaften mit dem Pinochet-Militärregime (1973 bis 1990) und Folter auf seinem hermetisch von der Außenwelt abgeriegelten landwirtschaftlichen Gut vorgeworfen wurden.

Die Geschichte der „Colonia Dignidad“, inzwischen umgetauft in „Villa Baviera“, und ihres deutschen Trägervereins, der Vereinigung „Private Sociale Mission“, begann etwa Mitte der 50er Jahre im Rhein-Sieg-Kreis und ist untrennbar verbunden mit Paul Schäfer. 1921 geboren in Bonn und kurz darauf nach Troisdorf sowie später dann nach Siegburg verzogen, wuchs Schäfer in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Und mit einem körperlichen Makel: Er hatte ein Glasauge. Dennoch eilte ihm schnell der Ruf einer charismatischen Persönlichkeit voraus, die vor allem die Jugend zu begeistern wusste. Schäfer engagierte sich in evangelischen und freikirchlichen Kreisen. Er organisierte Zeltlager und Bibelabende, 1947 aber bereits gingen erste Hinweise ein, er habe sich Minderjährigen unsittlich genähert. Zwei Jahre später wurde er von der Siegburger Kirchengemeinde entlassen und zog als Laienprediger umher. Kontakt zu anderen Gemeinschaften fanden sich schnell. Mit dem damaligen Baptistenprediger Hugo Baar warb er schon bald erfolgreich Anhänger für sein späteres Missionshaus in Lohmar-Heide, das weitgehend in Eigenleistung erbaut wurde und als Hort zur Umsetzung seiner Vorstellungen von einem besseren Christentum gelten sollte. Die Gruppe nannte sich mal „Private Sozialmission“ und später „Private Sociale Mission“, mal „Missionshaus Heide“, mal „Jugend hilft Jugend“. Der einst lose Freundeskreis entwickelte sich zu einem straff organisierten Verein mit einem guten Riecher für erfolgreiche Geschäfte. Bis zu zehn Lebensmittelgeschäfte im Kreisgebiet wurden eröffnet, Immobilien in Hennef kamen hinzu.

1961 dann, just als Polizei und Bonner Staatsanwaltschaft wegen zwei Fällen sexuellen Missbrauchs gegen Paul Schäfer ermittelten, packten er und seine Anhänger zügig die Koffer. Der schon mehrmals besprochene „Aufbruch ins Paradies“ konnte beginnen: Unter dem Vorwand einer Chorreise ins Ausland wurde der Umzug vorbereitet und angetreten. Insgesamt 200 bis 300 Gefolgsleute, weit überwiegend aus Siegburg und Gronau, folgten Schäfer und seiner Vorhut in den nächsten Monaten auf das landwirtschaftliche Gut „Colonia Dignidad“ (Kolonie der Würde) nach Chile, das sich für viele seiner Anhänger schon bald aber viel mehr als Arbeitslager erweisen sollte. SEITE 3