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Georg Friedrich HändelMaßloses Genie

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Das Händeldenkmal auf Halles Marktplatz zeigt den Komponisten in der Tracht seiner Zeit. (Bild: dpa)

LONDON - Krankheiten beeinflussten Georg Friedrich Händels Musikkarriere. Fresssucht, so die These, sei die Ursache für Händels sublimste Kompositionen gewesen Eine chronische Bleivergiftung habe zu seiner Hinwendung zu Oratorien geführt. Gerade weil Georg Friedrich Händel so unmäßig gesoffen habe, sei das Spätwerk umso grandioser ausgefallen. Mit diesen Thesen schockt der Händel-Experte David Hunter die Musikwelt.

Passend zu Händels heutigem 250. Todestag veröffentlichte der Musikwissenschaftler an der Universität von Texas eine Studie, die neues Licht auf den Komponisten wirft. Sie ist im Katalog zu einer Ausstellung enthalten, die soeben im Londoner Händelhaus-Museum eröffnet wurde und Leben und Charakter des Wahlengländers illustriert.

Man weiß überraschend wenig über das Privatleben Händels - so wird immer noch gestritten, ob der zeitlebens überzeugte Junggeselle homosexuell war oder nicht - , aber seine Fresssucht ist gut dokumentiert. Wenn er in London essen ging, pflegte er die gesamte Speisekarte zu bestellen. Karikaturen zeigten ihn als gierigen Fettwanst.

Hunter sieht in Händels Heißhunger eine, vielleicht genetisch bedingte, Essstörung: „Händel konnte seine Nahrungsaufnahme nicht kontrollieren, selbst wenn dies bedeutete, sich der Lächerlichkeit preiszugeben.“ Und weil Händel zum Essen Unmengen von Wein und Port trank, führte diese Veranlagung zu einer schleichenden Bleivergiftung. Denn Blei war damals überall: im Wasser, im weißen Staubpuder, mit dem Händel seine Perücken auffrischte, im Essen und vor allem im Wein.

Bleivergiftung führt zu Kopfschmerzen, Koliken und Wutanfällen. Chronische Belastung hat rheumatische Schmerzen, Lähmung, Verwirrung zur Folge. Später kommt es zu Erblindung und Taubheit. All das sind Symptome, die bei Händel aufgetreten sind. Ein erster Höhepunkt der Krankheit war 1737 erreicht, als er die Arbeiten an einer Opernaufführung abbrechen musste, weil er aufgrund eines gelähmten rechten Armes nicht mehr dirigieren konnte. In den nächsten 22 Jahren bis zu seinem Tod wechseln sich regelmäßig Kuren und Erkrankungen ab.

Das Jahr 1737 markiert zugleich einen anderen Wendepunkt in Händels Leben - die Abwendung von der Oper und die Konzentration auf das Oratorium. Sicherlich hatte die Neuorientierung auch ganz praktische Gründe - der Publikumsgeschmack hatte sich gründlich gewandelt und Händel, der in seiner ersten Zeit in London als Meister der italienischen Oper reüssierte, hatte immer weniger Erfolg.

Doch erst seine Krankheit, so argumentiert der Musikhistoriker Hunter, zwang Händel, sich in der Kunstform des englischen Oratoriums neu zu erfinden: War es doch einfacher zu produzieren, schneller aufzuführen und entsprach zudem mehr und mehr der Gemütsverfassung des Maestros. „Die Musik hatte eine andere Qualität“, meint Hunter, „wenn man ,Susanna oder ,Israel in Ägypten hört, dann ist da Klage und Schuld. Er kann auch sehr zart sein, und obwohl es später ein paar heroische Stücke gibt, überwiegen doch die tragischen.“

Händels chronische Schmerzen, die Todesangst, die persönliche Misere hätten zu einem Interesse am Leiden anderer geführt. Die Götter, Könige und Helden früherer Opern wurden abgelöst durch tragische und menschliche Figuren. „Er richtete sich mehr nach innen“, so Hunter, „und schrieb Musik, die Geschichten von menschlichem Leid erzählte. Welche Ironie: Ohne seine physischen Gebrechen hätte er vielleicht weiterhin Opern geschrieben - und das wäre ein Desaster gewesen.“

Wohl wahr. Händels Oratorien trafen den Zeitgeist. 1741 komponierte er den „Messias“, sein Meisterwerk, das die Herzen der Briten mehr als alles andere gewann. König George II. stand während des Hallelujah-Chores ergriffen auf und setzte sich erst wieder, als der letzte Ton verklungen war. Ein Brauch, dem noch heute seine Untertanen folgen, ansonsten erheben sie sich nur, wenn die Nationalhymne erklingt. Da überrascht es nicht, wenn George Bernard Shaw befand: „Händel ist nicht nur ein bloßer Komponist in England: Er ist eine Institution. Mehr noch, er ist eine heilige Institution.“

Händel selbst hat seine Assimilierung entschlossen vorangetrieben. Seit seiner Ankunft als 25-jähriger kurfürstlich-hannoverscher Kapellmeister 1710 wollte er in der englischen Gesellschaft seinen Platz finden. Er änderte seinen Namen zu George Frideric Handel und nahm 1726 die britische Staatsbürgerschaft an. „Handel“ wurde zum beliebtesten Komponisten seiner Zeit, über 12 000 Menschen kamen zu den Proben der „Feuerwerksmusik“. In seinem letzten Willen schrieb er: „Ich hoffe die Erlaubnis des Dekans von Westminster zu haben, in der Westminster Abbey beerdigt zu werden“. Welch vermessenes Ansinnen, als erster Deutscher ins britische Walhalla einziehen zu wollen! Doch natürlich taten ihm die Engländer den Gefallen.

„Handel reveal'd“, bis 25. Oktober im Handel House Museum, 25 Brook Street, London