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Großes Leben auf kleinstem Raum

Lesezeit 4 Minuten

Renate Schmidt.

In loser Folge geben Politikerinnen und Politiker an dieser Stelle Auskunft über ihre Lieblingsbücher. In der ersten Folge spricht Norbert Wallet mit der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt.

Frage: Frau Schmidt, worüber reden wir?

Schmidt: Über Gunter Haugs Roman „Niemands Tochter“. Frage: Der Autor beschreibt die Lebensgeschichte seiner Großmutter. Wie sind Sie darauf gekommen?

Schmidt: Der Autor selbst hat es mir geschickt - verbunden mit dem Vorschlag, ob man seine Großmutter nicht irgendwie ehren sollte.

Frage: Ziemlich direkt.

Schmidt: Ich habe auch gedacht: Na, da könnte ja jeder kommen. Aber dann habe ich das Buch mit zunehmendem Interesse gelesen. In der Tat, es geht um eine großartige Frau.

Frage: Maria Staudacher. 1903 geboren. Aufgewachsen bei Vater und Stiefmutter auf einem abgelegenen fränkischen Hof. Dann selbst Mutter von neun Kindern, die sie mit weiteren Pflegekindern in einem winzigen Haus in Rothenburg durch Not und Krieg führt.

Schmidt: Ja, dieses winzige Häuschen. Wenn man davor steht, kann man sich nicht vorstellen, wie so viele Menschen hier leben konnten. Maria Staudacher gab ja im Zweiten Weltkrieg - der Mann war im Krieg - auch noch französischen Kriegsgefangenen Schutz.

Frage: Auch so eine verblüffende Geschichte. Ende der 80er Jahre kam abseits des Protokolls der französische Staatspräsident Francois Mitterrand nach Rothenburg auf der Suche nach einem kleinen Haus, in dem er Zuflucht vor den Nazis gefunden hatte. Er fand es nicht wieder.

Schmidt: Inzwischen scheint sich zu bewahrheiten, dass Mitterrand in Staudachers Haus Unterschlupf gefunden hatte.

Frage: Sie hat nach dem Krieg nie darüber geredet. Auch der Autor erfuhr erst nach ihrem Tod von der Geschichte.

Schmidt: Deswegen ist es letztlich auch egal, ob es wirklich Mitterrand war. Sie sah, dass Hilfe notwendig war, und half. Ich finde es bewundernswert, wie sie und ihr Mann alles Schwere durchgestanden haben, standhaft geblieben sind gegenüber den Nazis trotz großer Nachteile.

Frage: Dieses schwere Leben, fast immer in Armut, hat auch traurige Seiten.

Schmidt: Das Buch heißt ja „Niemands Tochter“. Maria Staudacher fühlte, dass sie nirgends richtig hingehörte. Sie liebte ihren Vater, aber ihre Stiefmutter behandelte sie schlecht. Der Großvater hatte die Beziehung von Marias Vater zu einer Magd nicht akzeptiert. Die leibliche Mutter weist beim Wiedersehen ihre Tochter zunächst brüsk ab. Eine sehr anrührende Szene. Als die Mutter im Sterben liegt, kümmert sie sich liebevoll. Doch weder die Todesanzeigen für die Mutter noch später für den Vater werden Maria erwähnen.

Frage: Also ein trauriges Buch.

Schmidt: Nein, nein. Zwar ist sie viel zu früh gestorben und hat nicht sehen können, dass aus all ihren Kindern etwas geworden ist. Das macht schon traurig. Aber sie hat sich immer ihre Fröhlichkeit bewahrt und ihr Leben trotz aller Widrigkeiten als ein gutes und richtiges empfunden.

Frage: Sie lebt aus einem tiefen Gottvertrauen.

Schmidt: Sie hat das Vertrauen, dass Gott ihr hilft und zu ihr steht. Das halte ich für etwas sehr, sehr Gutes.

Frage: Sie selbst sind wieder in die Kirche eingetreten.

Schmidt: Ja, vor zehn Jahren. Nicht, weil ich davor nicht geglaubt hätte, sondern weil ich festgestellt habe, dass die Kirche aus der ich ausgetreten war, nicht mehr dieselbe ist. Es hat sich viel verändert.

Frage: Haugs Buch ist ein Regionalroman.

Schmidt: Das hat mir natürlich zusätzlich gefallen. Rothenburg ist Mittelfranken. Nicht so weit weg von Nürnberg, wo ich lebe. Eine schöne Landschaft. Aber vor allem hat mich das Schicksal dieser Frau bewegt.

Frage: Aus welchem Grund lesen Sie Belletristik.

Schmidt: Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der Bücher für mich keine Rolle gespielt hätten. Als Kind hatte ich manchmal den Rhythmus: ein Tag - ein Kästner-Buch. Ich erinnere mich noch an ein wirklich schlimmes Kindheitserlebnis. Wir hatten nie viel Geld. Eines Tages hat mein Vater dann unsere Bücher zum Antiquar gebracht. Für mich war das fürchterlich. Ich weiß, dass ich mir eines davon in einem Bonner Antiquariat wieder gekauft habe.

Frage: Was lesen Sie?

Schmidt: Ganz Unterschiedliches. Ich lese auch Krimis und bin Fan von Hakan Nesser. Zuletzt war ich sehr angetan von dem zweiten Roman von Frank Goosen: „Pokorny lacht“. Und ich liebe die Bücher des Schweizers Adolf Muschg. „Sutters Glück“ ist ein tolles Buch. Auch „Der rote Ritter“, eine Parzifal-Geschichte, ist begeisternd.

Gunter Haug: Niemands Tochter. Auf den Spuren eines vergessenen Lebens. Hoffmann und Campe, Hamburg, 415 S., 21,90 Euro.