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„Ich habe nur fürs Reiten gekämpft“

Lesezeit 4 Minuten

Vermutlich wäre gar nichts passiert, wenn das vorletzte Hindernis, die „Blumenbank“, beim Geländeritt richtig befestigt gewesen wäre. So aber geriet der 15-jährige Wallach „Moric“ beim Sprung mit den Beinen auf die Bank und stürzte damit um. In hohem Bogen flog die Reiterin Nadja Remagen aus dem Sattel und schlug mit der Stirn auf dem Boden auf. Reglos blieb die 15-Jährige liegen, Blut lief aus Mund und Nase. Aus nächster Nähe beobachteten die Eltern Dagmar und Frank Remagen das Unglück. „Nadja ist tot“, dachten beide entsetzt und stürzten zu ihrem Kind.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf das Unglück die Familie. Bis dahin lebten Nadja und ihre Schwestern Nina (14), Nane (12), Natalie (10) und Nicola (5) mit ihren Eltern in gut situierten Verhältnissen, sorglos, zufrieden. Die vier Jüngsten sind karnevalsjeck wie der Vater, bundesweit bekannt als Präsident der Ehrengarde-Fernsehsitzung. Dann dieser Sturz vom Pferd. Später werden die Ärzte sagen: „Wenn Ihre Tochter das überlebt, hat sie kaum Chancen, wieder ein normales Leben zu führen.“

Das war am 13. April 2003. Doch ein Wunder geschah. Nadja ist nahezu wiederhergestellt und geht jetzt auch wieder in ihre alte Schule.

Die Bilder von dem Unglück bleiben präsent. Vom Unglücksort weggezerrt zu werden, empfand die Mutter besonders schrecklich. Lange Zeit keine Informationen zu bekommen, setzte der Familie furchtbar zu. Dass der Arzt Dr. Roger Haunhorst am Unfallort die richtige Diagnose (Schädelhirntrauma) stellte, rettete Nadja das Leben.

Der Rettungshubschrauber kam. Landete. Dann wurde der Motor abgestellt. Da war die Familie sicher: „Jetzt ist Nadja tot.“ Schließlich wurde das Mädchen in die Neurochirurgie nach Essen geflogen. Notoperation, Intensivstation. „Wir hatten keine Ahnung, was auf uns zukommen würde“, sagt Dagmar Remagen (37) heute.

Am 10. Tag erwachte das Mädchen aus dem Koma, wirkte aber auf die Familie „wie in einer anderen Welt“. Am 16. Tag Verlegung zur RehaNova in Merheim. „Dann begann der Leidensweg erst richtig“, erinnert sich Frank Remagen (42): „Nadja bekam eine Hirnhautentzündung.“ Sechs Wochen Intensivstation, während der die gesamte Verwandtschaft einen Rund-um-die-Uhr-Wachdienst am Krankenbett organisierte.

Überall besorgten sich die Eltern medizinische Informationen und wurden doch immer ratloser. „In dieser Zeit lernst du beten“, versichert Frank Remagen. Seine Frau baute im Wohnzimmer einen Marienaltar auf, an dem die Kerzen nie ausgingen.

Dann klang die Entzündung ab, und die Patientin machte Fortschritte. Die Eltern setzten sich über den Rat hinweg, die Geschwister fernzuhalten. Als Nadja Nesthäkchen Nicola im Arm hielt, strahlte sie. Es gefiel ihr, im Krankenhaus „ihre“ Musik zu hören, Musik, „die meine Eltern gar nicht mögen“. Sieben Wochen nach dem Sturz begann sie wieder zu sprechen. Weinte, als die Freundinnen sie besuchten. „Und ich habe mich jeden Tag gefreut, wenn ich ,Mac s als Essen gebracht bekam“, erzählt Fast-Food-Fan Nadja.

Rollstuhl, dann Geh-Training mit Freunden, auf eigenen Beinen stehen, sich im Rahmen der Therapie sogar aufs Pferd setzen: Die Fortschritte waren gewaltig. Jeden Tag die vielfache Nachfrage: „Wie geht s?“ geht ihr auf den Keks und nervt auch Schwester Nina, die am 13. April in Gahlen ebenfalls am Start bei der Military war.

Die Familie blickt nach vorn. „Ich bin freier geworden“, hat Nadja festgestellt, die früher sehr zurückhaltend war. Was ihren Lebenswillen stärkte, hat sie ihrem Vater später erzählt: „Ich hab nur fürs Reiten gekämpft.“ Gegen ihr Pferd hegt sie keinen Groll: „Es konnte nichts dafür.“ Dass man ihr wegen der Notoperation die schönen langen Haare abgeschnitten hat, schmerzt sie allerdings bis heute.

Dagmar Remagen und ihr Mann haben in den Wochen schwerster Ungewissheit gelernt, wieder dankbar für die kleinen Dinge des Lebens zu sein. Und das schöne Haus in Hürth „haben wir genossen wie nie, die Zweisamkeit, die Harmonie“, sagt die Mutter.

Das Personal der Essener Klinik, vor dem die Remagens allergrößte Hochachtung hegen, haben sie neulich einmal besucht. „Die haben sich“, erzählen sie strahlend, „wirklich riesig gefreut.“