Interview mit Marcel Wüst„Hier bin ich Mensch ...“

Tour de France. (Symbolbild: dpa)
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Zum Treffpunkt in einem Café in Köln, seiner geliebten Heimat, erscheint Marcel Wüst (42) mit seiner Frau Heike. Wüst hat kein Gramm Fett auf den Rippen, wie zu seiner Profi-Zeit.
Sind Sie nicht mit dem Rad aus Königsdorf gekommen?
Nein, nein, heute mit dem Motorrad. Ich muss gleich eine Freundin am Flughafen abholen.
Wie oft sitzen Sie denn auf dem Rennrad?
Radfahren und Bewegung gehören für mich nach wie vor dazu. Die Strecken sind ganz unterschiedlich. Wenn meine Frau Heike und ich mal ohne Kinder unterwegs sind, fahren wir schon mal zwei Stündchen, aber zügiger.
Kribbelt es nicht in den Füßen, manchmal schneller zu treten?
Nee, es kribbelt nicht. Für Hobbysportler sind wir aber auf gutem Niveau unterwegs. Mit unserer Rad-Kundschaft auf Mallorca können Heike und ich die Gruppe bei Bedarf teilen, schneller oder langsamer fahren. Ich glaube als Team sind wir unschlagbar.
Als unschlagbar galt lange Zeit auch Lance Armstrong, der in diesem Jahr sein Comeback gestartet hat. Können Sie es nachvollziehen?
Ich könnte mich nicht mehr so quälen, auf so viele Dinge verzichten. Der Unterschied zwischen uns ist: Ich kann, wann ich will, aber ich muss nicht mehr. Lance ist einer, der polarisiert: Man findet ihn gut oder eben nicht. Ich kenne ihn als Sportler und auch als Menschen, der Typ ist ein Knaller. Ich finde gut, dass er wieder fährt.
Lebt Armstrong denn nur für den Radsport?
Armstrong ist einer der lebt, der auch gut lebt. Er trinkt mit Sicherheit auch ein paar Margaritas, nicht während der Tour, aber wenn sie vorbei ist. Ich habe mit ihm seinen 21. Geburtstag gefeiert in Nantes. Und da haben wir zusammen eine Flasche Tequilla getrunken. Wie es jetzt allerdings ist, nach seiner Krebserkrankung, kann ich nicht sagen. Er war damals 21 und ich 23 - und man macht ja auch eine Entwicklung durch.
Haben Sie Ihr Image als Sonnyboy inzwischen abgelegt?
Grundsätzlich bin ich ein Mensch, der sehr gelassen durchs Leben geht. Der es sich mit keinem wirklich verscherzen will. Warum soll man sich denn streiten? Das ist ein bisschen meine kölsche Mentalität, zu sagen: Das kriegen wir irgendwie hin. Ich lese gerade ein Buch über Kölner Psychologie.
Kölner Psychologie?
Ja, „Kölner auf der Couch“ ist ein tolles Buch. Es geht darum, wie der Kölner an sich tickt, wie er die Welt sieht und wie er glaubt, wie andere ihn wahrnehmen. Wie er sich als Kosmopolit sieht, sich auf der anderen Seite aber in seiner kleinen Kaffeebude in Köln sehr wohl fühlt.
Empfinden Sie es auch so?
Ja, so sehe ich mich auch. Ich bin hier groß geworden, hier geboren. In Köln heißt es ja auch: Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein. Und zwar jeder nach seiner Facon. Es ist ganz angenehm, sich nicht verstellen zu müssen, um irgendjemandem zu gefallen.
Sind Sie auch wegen Ihrer lockeren Art früher mal als „Urlauber“ tituliert worden.
Das war sicherlich als kleine Provokation gedacht. 1992 habe ich mir diesen Titel redlich verdient.
Wie ist es dazu gekommen?
Ich bin damals mit einem Hawaii-Hemd und einem Strohhut zu einem Rennen angereist. „Le Tourist“ nannte mich dann mein Sportlicher Leiter. Aber ich habe von den sechs Etappen vier gewonnen. Mann kann auch locker sein und trotzdem gut.
Sie waren gerade auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere angelangt, als diese wegen eines Sturzes abrupt endete.
Ja, da steht man oben auf dem Olymp, hört die Musik und denkt, jetzt kann nichts mehr passieren. Und keinen Monat später ist die Karriere zu Ende, weil man auf den Kopf gefallen und das Auge weg ist.
Hat Sie Ihr unerschütterlicher Optimismus über diese schwierige Zeit gebracht?
Man muss sich auf das besinnen, was man als Sportler gelernt hat: Gehe auf einem geraden Weg auf das Ziel zu, aber glaube nicht, dass dieser Weg nicht steinig sein wird. Für mich war es eine Riesenfreude, erst mal aus diesem beschissenen Krankenbett aufzustehen, drei Meter in meine Nacktzelle zu gehen und mir da die Zähne zu putzen. Und dann wollte ich kein Morphium mehr nehmen müssen, kein Antibiotikum mehr.
Also so etwas wie eine erste Etappe.
Ja, man muss sich den Weg zurück in mehrere Etappen einteilen, weil natürlich nicht alles auf einmal geht. Und man muss sich darauf besinnen, dass der liebe Gott vor jeden Erfolg harte Arbeit gestellt hat. Von nix kütt nix, sagt man ja in Köln. Ich glaube sogar, dass mir der Unfall genutzt hat.
Was haben Sie für sich aus dieser Situation gezogen?
Es war ein harter Weg. Wichtig war zu sehen, dass man mit großem Willen eine solche Situation überstehen kann. Ohne eine gewisse Flexibilität, die neuen Ziele betreffend, geht es aber nicht.
Heute geben Sie Radsportseminare auf Mallorca.
Ja, das passt. Wir haben eine Finca gefunden. Die war erschwinglich, auch weil sie renovierungsbedürftig war. Wir haben sie komplett saniert, mit Freunden und mit eigenem Muskelschmalz.
Haben Sie sich schon mal einen Nagel in den Finger gehauen?
(lacht) Ich bin handwerklich nicht unbedingt begabt, aber sehr lernfähig. Zum Glück konnte ich auf gute Freunde zurückgreifen.
Wie kommen Sie vor Ort zurecht?
Wir haben guten Kontakt zu den Einheimischen, da ich auch fast perfekt Spanisch spreche. Etwa mit dem Bürgermeister, dem dort ein Restaurant gehört. Die Menschen wissen es zu schätzen, dass ich beim Umbau selber mit Hand angelegt habe. Viele andere Deutsche auf Mallorca bilden Enklaven.
Ihr Name dürfte Ihnen bei der Kundengewinnung nicht hinderlich sein.
Ja, das ist eine Vernetzung. Man nutzt den Namen, ich sehe mich auch ein wenig als Produkt - aber Premium.
Wie würden Sie das Produkt Wüst beschreiben?
Man sollte sich so präsentieren, wie man wirklich ist. Ehrlichkeit ist wichtig. Dass, was ich zum Beispiel als Referent rüber bringe, lebe ich auch. Ich rede nicht über Bewegung - und gehe dann an der nächsten Ecke eine rauchen.
Lange im Voraus planen ist nicht Ihr Ding.
Ich weiß heute nicht, was in zwei, drei Jahren ist. Aber ein Etappensieg fehlte mir zu meiner aktiven Zeit nur auf dem asiatischen Kontinent. Vielleicht fahre ich mal ein Jedermann-Rennen in Japan. Und vielleicht werden wir später einmal in Australien alt, dort haben wir viele Freunde.