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Interview mit Steffi Nerius„Vertrauen ist schwer zu finden“

Lesezeit 6 Minuten

Eine Frau hört auf: Steffi Nerius will zum Abschluss ihrer erfolgreichen Karriere bei der WM in Berlin noch einmal alles rausholen. BILD: DPA

Zwischen zwei Terminen in der medizinischen Abteilung des TSV Bayer Leverkusen nimmt sich Steffi Nerius ab 8.30 Uhr eine Stunde Zeit. Sie hat Schlüsselgewalt in den Katakomben der Fritz-Jacobi-Anlage und wählt für das Interview einen schlichten Schulungsraum. Deutschlands erfolgreichste Speerwerferin bleibt im Gespräch ernst und konzentriert. Als sie aber von ihrer Heimat Rügen erzählt, lächelt die 36-Jährige unaufhörlich.

Frau Nerius, sind Sie eigentlich Frühaufsteherin?

Wieso fragen Sie?

Für einen Journalisten ist das ein recht früher Interviewtermin und Sie haben schon eine einstündige Behandlung in der Physioabteilung hinter sich . . .

Ach so. Ich stehe jeden Tag so zwischen halb sieben und sieben auf. Der Weg von mir zu Hause bis zur Anlage ist für mich nicht weit. Also ich würde mal behaupten, dass ich mit dieser Uhrzeit nicht zu den Frühaufstehern gehöre. Was meinen Sie?

Für eine Leistungssportlerin ist das wohl eine ganz normale Uhrzeit. Warum die medizinischen Anwendungen? Sind Sie verletzt?

Nein, aber die Belastungen im Leistungssport sind im Laufe einer so langen Karriere einfach ungemein hoch. Und in meinem Alter zwickt der Körper eben öfter. Zumal ich als Speerwerferin gerade im Rückenbereich anfällig bin. Der nächste Termin dient deshalb auch der Stabilisation von Rücken und Bauch.

Da bleibt wohl nicht viel Zeit für ein, nennen wir es einmal „normales Leben“?

Training und Wettkämpfe haben schon immer mein Leben bestimmt. Ich kenne das nicht anders. Während meiner Studienzeit an der Sporthochschule Köln hatte ich zum Beispiel nie ein normales Studentenleben. Veranstaltungen, Kurse, Training und Wettkampf. So sah und sieht mein Alltag halt aus.

Sie stammen aus dem Sport-System der ehemaligen DDR . Gab es dort mehr Zeit für ein Privatleben?

Nein, auch dort hat sich immer alles um den Sport gedreht. Für mich erst als Volleyballerin, dann nach meiner Umschulung als Speerwerferin.

Hat Ihnen Volleyball nicht mehr gefallen?

Der Wechsel war nicht ganz freiwillig. Meine Eltern sind beide Volleyballtrainer, also war mein Weg eigentlich programmiert. Dann gab es ein Auswahlturnier. Alle haben gesagt, ich sei die beste Spielerin gewesen. Und dann haben mich die Verantwortlichen ausgesiebt, weil ich ihnen zu klein war. Nach den üblichen Wachstumsprognosen der Ärzte sollte ich 1,68 Meter werden. Heute bin ich 1,78 Meter, also ideal für Volleyball. So kann man sich irren.

Hatten Sie noch weitere unliebsame Begegnungen mit dem System DDR?

Ich habe immer vom DDR-System profitiert und kann aus meiner Sicht nichts Schlechtes sagen. Andere Menschen in der DDR haben sicher anderes erlebt. Mir hat es nie an irgendetwas gefehlt.

Wie haben Sie dann die Wende erlebt?

Davon habe ich, ehrlich gesagt, fast nichts mitbekommen. Irgendwann hörte ich, die Mauer ist offen, wir können rüber.

Das klingt aber unspektakulär angesichts der historischen Dimension. Wie verlief Ihre erste Begegnung mit dem Westen?

Wir sind mit der Familie zu Verwandten meines Vaters nach Rastede gefahren. Ich habe mich gewundert, dass alles so sauber war und dass es keine Penner zu sehen gab.

Wie bitte?

Na ja, das sind die Dinge, die uns in der DDR über den Westen beigebracht wurden. Es gibt nur ganz Reiche und ganz Arme. Dann gab es da noch eine Episode. In Rastede waren ein paar Jugendliche in meinem Alter, mit denen ich abends ausgehen konnte. Als die um 22 Uhr immer noch keine Anstalten gemacht haben aufzubrechen, ist mir die Sache langsam unheimlich vorgekommen. Als ich nachgefragt habe, erzählten sie mir, dass es erst ab 23 Uhr losgeht.

Das hat Ihnen dann so gut gefallen, dass sie gleich ganz „rüber gemacht“ haben?

Nein, der Grund war, dass in Rostock, wo ich damals im Vollzeitinternat war, alle Strukturen zusammen gebrochen sind. Mein damaliger Trainer hat mir geraten, mich in Leverkusen zu bewerben. Ich wollte ja studieren und die Nähe zu Köln war halt ideal, obwohl ich zunächst gar nicht wusste, dass man in Köln Sport studieren konnte.

Gefällt es Ihnen im Rheinland

Ausgesprochen gut. Die Mentalität der Menschen liegt mir, obwohl ich aus Rügen komme. Und ich fühle mich in Leverkusen wirklich sehr wohl.

Vermissen Sie Ihre Heimat überhaupt nicht? Rügen soll doch sehr schön sein?

Waren Sie noch nicht dort?

Nein...

Na, dann fahren sie mal hin. Ich vermisse das Meer, das ist dort ja quasi an jeder Ecke. Ich bin am und mit dem Wasser aufgewachsen.

Von den schönen mal zu den unschönen Dingen. 1996 hat sich Rudi Hars, Ihr Trainer, erschossen. Danach haben Sie lange nach einem neuen Trainer gesucht, bis Sie schließlich Helge Zöllkau gefunden haben. Mussten sie Hars Selbstmord erst einmal aufarbeiten?

Rudis Tod kam nicht unvorhergesehen. Es gab schon vorher immer mal wieder Anzeichen. Wir haben nach seinem Selbstmord im Verein oft darüber gesprochen. Das war eine hilfreiche Therapie. Aber einen guten Trainer findet man nicht einfach so auf der Straße.

Was zeichnet einen guten Trainer aus?

Man muss ihm vertrauen können. Das hört sich nach nicht viel an, ist aber schwer zu finden. Ich bin auch der Meinung, dass die meisten ehemaligen Spitzensportler keine guten Trainer sein können.

Warum?

Sie stellen aufgrund ihrer eigenen Leistungen viel zu hohe Ansprüche. Deshalb wollte ich auch keine Trainerin werden.

Aber jetzt werden sie eine ...

Ich habe Reha studiert und habe mich dort auch jobmäßig ausprobiert. Aber es hat mich nicht ausgefüllt. Für die Leitung von Herzgruppen bin ich zu ehrgeizig. Mit dem Training von Spitzenathleten im Behindertensport habe ich die optimale Mischung gefunden.

Ist die Stelle als Behindertentrainerin ab dem 1. Oktober in Leverkusen der Grund dafür, dass Sie nach der WM in Berlin Ihre Karriere beenden?

Nein. Ich denke, der Zeitpunkt ist einfach gekommen. Ich bin so ehrgeizig, dass ich es nicht vertragen könnte, irgendwann als Fünfte oder Sechste irgendwo mitzuwerfen. Es ist doch besser mit einem Highlight wie Berlin aufzuhören. In diese WM kann und will ich noch einmal meine ganze Kraft legen. Und ich sage Ihnen, im Moment fühle ich mich so stark wie noch nie. Ich habe das Gefühl, ich kitzele alles, was ich an Motivations-Reserven habe, aus mir heraus.

Und welche Ziele und Wünsche gibt es nach Berlin?

Ach, eigentlich keine. Ich habe mir jedenfalls noch keine Gedanken gemacht. Aber warten Sie mal. Auf jeden Fall fahre ich nach Rügen an den Strand - und vielleicht spiele ich auch ein bisschen Volleyball. Groß genug bin ich ja.