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Tragödie in Braunschweig: Mord aus Leistungsdruck

Lesezeit 4 Minuten

Eine beliebte Wohngegend für Menschen, denen es gut geht: Die Anwohner in der Braunschweiger Husarenstraße sind entsetzt über die Bluttat.

Die Husarenstraße in der östlichen Braunschweiger Innenstadt ist eine hübsche Wohngegend. Viele Altbauten stehen hier, zum Teil mit Stuck an der Fassade, alles gepflegt. Hier wohnen Ärzte, Anwälte, Leute, denen es nicht schlecht geht im Leben. Auch die Professorenfamilie wohnte in einer 5-Zimmer-Wohnung über zwei Etagen großzügig. Am Donnerstagabend erschoss in dieser Wohnung der zwölfjährige Sohn seine Eltern und versuchte, sich danach selbst zu töten. Angeblich hatte er sich mit seinem Vater über die Schulnoten gestritten.

Um 19.23 Uhr war am Abend bei der Polizei ein Notruf eingegangen. Am Telefon der 14-jährige Bruder. Völlig aufgelöst schilderte er, seine Eltern und der Zwölfjährige lägen blutüberströmt in der Wohnung. Er sei gerade nach Hause gekommen. Wenige Minuten später standen ihm Polizisten gegenüber: „In Boxershorts und die Hände voller Blut“ habe der Jugendliche die Tür geöffnet.

In der Küche, auf dem Boden, entdeckten die Beamten die entstellten Leichen. Wie der Mann war auch die 49-jährige Frau von mehreren Kugeln im Oberkörper getroffen. Jede Hilfe kam zu spät. Neben ihnen die Waffen: ein Colt vom Kaliber 45 und eine Kleinkaliberpistole. Beide Handfeuerwaffen sowie Munition gehörten dem Vater. Er war Jäger. Wie der Junge an die Waffen kommen konnte, ist unklar.

Auch der Junge lag leblos am Boden. Am Kopf schwer verletzt und mit letzter Kraft gestand er, im Streit geschossen zu haben. Noch in der Nacht wurde der Junge in künstliches Koma versetzt. Inzwischen ist er operiert und schwebt nicht mehr in Lebensgefahr. Vernehmungsfähig wird wohl erst in einigen Tagen sein.

Nachbarn berichteten, bei der Familie habe es sich um unauffällige Leute gehandelt. Der Vater, Professor, war als Arbeitsmediziner für VW tätig. Gelegentlich habe man von Streitigkeiten gehört, da sei es wohl um Schulnoten gegangen. Andere sagen, die aus Mauritius stammende Mutter sei über die familiären Auseinandersetzungen „sehr unglücklich gewesen“. Beide Jungen besuchten ein Gymnasium, das in Braunschweig als sehr leistungsorientiert und mitunter auch elitär angesehen wird. Der Vater, so heißt es, soll dem Jüngeren mit Internat gedroht haben.

„Leistungsdruck“ sei der Hintergrund der Tat sagt auch Polizeisprecher Wolfgang Klages. Das klingt seltsam als Motiv für eine Tragödie, die in Deutschland ohne Vorbild ist. Zwar gab es weitere Fälle, in denen Minderjährige zur Waffe greifen und diese auch auf die eigenen Eltern gerichtet haben (siehe nebenstehenden Kasten), aber was muss im Leben eines Zwölfjährigen passieren, damit er seine Eltern ermordet?

Natürlich fällt einem Robert Steinhäuser ein. Das fürchterlichste, weil verheerend reagierende Opfer des Leistungsdrucks. In Erfurt erschoss er in seiner Schule 16 Menschen und tötete sich selbst. Steinhäuser war 19, was die Tat nicht erklärbarer macht, jedoch in ein anderes Licht stellt. Langsam zögen in Deutschland „amerikanische Verhältnisse“ ein, hat der Jugendforscher Klaus Hurrelmann nach der Taten von Bad Reichenhall und Meißen gesagt. Als ein 16-Jähriger mit einem Gewehr wahllos auf Nachbarn schoss und ein 15-Jähriger seine Lehrerin erstochen hat. Es gebe eine „deutliche Unfähigkeit, mit den Problemen des Erwachsenwerdens und der zunehmenden Aggressivität der Jungen“ zurecht zu kommen.

Solche Sätze wirken absurd angesichts einer Tat, die jeden pädagogischen Ansatz lächerlich erscheinen lässt. Und welche Erklärung sollen funktionieren, wenn Jugendliche Eltern oder Lehrer einfach wegschießen? Oder wenn vier Jugendliche einen Mitschüler über Monate auf einer Toilette foltern. Über die Überforderung gerade männlicher Jugendlicher in der Pubertät sind sich die Jugendforscher seit langem einig. Der Druck nehme zu. „Viele wissen nicht, wie sie all das schaffen sollen“, sagt Hurrelmann.

In der Braunschweiger Husarenstraße ließ das Entsetzen gestern noch keine Erklärungsversuche zu. „Unfassbar“ sei die Tat in der Altbauwohnung. Auch die Mitschüler am Gymnasium reagierten geschockt auf die grausame Nachricht. Lehrer schirmten das Gebäude von Kamerateams ab. Der ältere Bruder wird vorerst vom Jugendamt betreut. Wann der junge mutmaßliche Täter vernommen werden kann, ist unklar. Da er mit unter 14 noch nicht strafmündig ist, kann er für den Mord an seinen Eltern nicht verurteilt werden. (EB)