Untergang der TitanicGerettet – mittel- und kleiderlos

Elke Dahmen erinnert sich:„Immer wenn mein Vater von der Titanic erzählte, wurde er ganz ruhig und leise.“
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KÖLN – 14. April 1912, 23.30 Uhr. Der Kölner Alfred Nourney alias Baron Alfred von Drachstedt, der Juwelier Henry Blank aus Glen Ridge, New Jersey, und der Pelzhändler William Bertram Greenfield aus New York City haben sich in den opulent ausgestatteten Rauchsalon der 1. Klasse des britischen Luxusliners Titanic zurückgezogen, trinken Whisky, rauchen Zigarren und spielen Karten.
Um 23.40 Uhr spürt Nourney „einen leichten Stoß“, hört Gläser klirren und sieht, wie sein Whiskyglas wackelt. Kurze Zeit später erscheint ein Besatzungsmitglied und ruft mit lauter Stimme: „Hey Jungs, wir haben gerade einen Eisberg geschrammt.“ Ruhig und gelassen – die Titanic gilt als unsinkbar – geht das Trio auf das Promenadendeck. Da nichts zu sehen ist, kehren sie rasch in den Salon zurück. Als sie weiter Karten spielen wollen, stoppt der Dampferriese der britischen Reederei White Star Line, der sich auf seiner Jungfernfahrt für die Linie Southampton-Cherbourg-Queenstown-New York befindet.
Der Kölner und die beiden Amerikaner reagieren schnell und eilen die Stufen einer Wendeltreppe hinunter auf das F Deck, wo sie mit Entsetzen feststellen, dass der Boden der Squash-Anlage bereits knöcheltief unter Wasser steht. Die jungen Männer wissen, was zu tun ist: Sofort laufen sie zu ihren Kabinen und holen ihre Rettungswesten. Zusammen mit Blank, Greenfield, dessen Mutter Blanche und ihrer Freundin Antoinette Flegenheim, einer gebürtige Berlinerin, trifft sich Nourney am Rettungsboot 7, das als erstes von 20 Booten vom Ersten Offizier William Murdoch um 0.45 Uhr auf das dunkle, eiskalte Wasser des spiegelglatten Atlantiks herab gelassen wird. „Murdoch war leichenblass und äußerst aufgeregt“, erzählt Nourney viele Jahre später seiner Tochter Elke.
Im Boot, das von zwei Besatzungsmitgliedern gerudert wird, sind 17 Männer und neun Frauen aus der 1. Klasse, ein Wasserfass und eine Dose Kekse. Nourney hat zwei Flaschen Whisky und einige Sandwiches dabei. Kurz nach dem Ablegen zieht Nourney seinen Revolver und feuert mehrere Male in die Luft. Der Kölner wird in den folgenden 90 Minuten Zeuge der Katastrophe, die zum Mythos und Menetekel des 20. Jahrhunderts, zum Symbol technischer Hybris, menschlichen Hochmuts und Versagens wird.Rund 1500 der etwa 2200 Menschen an Bord ertrinken, erfrieren und werden erschlagen. 1985 wird das Wrack der Titanic in rund 3800 Metern Tiefe, etwa 550 Kilometer südöstlich von Neufundland, entdeckt.
Alfred Fernand Omont, der „neben dem Baron aus Köln“ im Rettungsboot 7 saß, erzählt am 19. April 1912 der Zeitung „The Daily Picayune“: „Als das große Schiff sank, nahm jeder Mann im Rettungsboot seinen Hut ab. Mit gesenktem Kopf wurde ein stilles Gebet den Unglücklichen dargebracht, die mit der Titanic in ihr Wassergrab sanken. Noch eine Stunde nach dem Untergang hörten wir die Schreie der Sterbenden.“ „Die Schreie der Sterbenden waren wie eine Sirene“, erzählt Nourney später seiner Tochter Elke.
Um 4.30 Uhr klettert Nourney halb erfroren die Strickleiter der Carpathia hoch, wo er mit trockener Kleidung und einem Frühstück versorgt wird. Als er sich auf einem Stapel Decken, der für die Überlebenden bestimmt ist, bequem machen will, wird er unter Beifall von mehreren Frauen vertrieben. Schon im Rettungsboot ist Nourney unangenehm aufgefallen als er sich weigert, eine Zeit lang zu rudern.Der 20-jährige Kölner stammt aus begütertem Elternhaus. Vater Hans betreibt einen florierenden Weinhandel. Nach dem Tod ihres Mannes heiratet die Mutter den jüdischen Juristen Dr. Arthur Wolff.
„Mein Vater war sehr verwöhnt. Meine Großmutter hat oft erzählt, dass er Wechselgeld einfach wegwarf.“ Der junge,gut aussehene Kölner ist ein Schwerenöter und Schürzenjäger. „Meine Mutter und sein Stiefvater haben ihn nach Amerika geschickt, weil er ein Dienstmädchen geschwängert hatte. Dort sollte erst einmal Gras über die Affäre wachsen“, erzählt Nourneys Tochter Elke Dahmen.Nourney steigt am 10. April 1912 als Passagier der 2. Klasse mit einem 13 Pfund teuren Ticket zu (Nummer 2166, Kabine D 38). Beim Zahlmeister kauft er unter dem Namen „Baron Alfred von Drachstedt“ für einen Aufpreis von 38 Pfund ein Ticket für die 1. Klasse.
„Mein Vater wollte zocken. In der 1. Klasse waren sehr wohlhabende Passagiere“, sagt Nourneys Tochter Elke Dahmen. Der 20-jährige führt Schmuck, Spazierstöcke und Anzüge im Wert von 2130 Dollar mit sich. Am zweiten Tag der Reise schickt er aus dem irischen Hafen Queenstown eine Postkarte an seine Mutter Adele Wollf, Sachsenring 99, Köln: „Liebe Mutter. Ich bin so glücklich auf meiner ersten Klasse! Ich kenne schon sehr nette Leute! Ein Brillantenkönig! Mister Astor einer der reichsten Amerikaner ist mit an Bord! Tausend Küsse, Alfred.“Am 13. April, 22.20 Uhr, lässt Nourney zwei Funksprüche senden. Der erste richtet sich an seine Mutter: „Wolff Sachsenring Cöln.
Drahtlosen Grus.“ Der zweite ist für seine Freundin bestimmt: „Jarkonska Rothgerberbach Cöln: Drahtloser Kuss in Liebe, Alfred.“ Ein Telegramm, das er von der Carpathia an seine Mutter schicken wollte, bleibt ungesendet: „Wolff Cöln Sachsenring: Titanic gesunken! Gerettet an Bord der Carpatia. Cunard Line. Vollständig mittel und kleiderlos. Alfred.“In den 20ern und 30ern führt Nourney ein schillerndes Leben: In Köln eröffnet er eine Boxschule, fährt Auto- und Motorradrennen und lernt das Fliegen. Später wird er Vertreter für Daimler Benz und mit 50 ein verantwortungsbewusster Familienvater. 60 Jahre nach dem Untergang der Titanic stirbt Nourney im Alter von 80 Jahren. Der Kölner Zeuge der Jahrhundertkatastrophe wird 1972 in der Familiengruft auf Melaten beigesetzt.