Verführung ist die wahre Gewalt
WIEHL. Den Dolch gegen sich selbst gerichtet stirbt eine junge Frau in den Armen des Vaters. Innerlich zerrissen, aber entschlossen entzieht sie sich damit Fremdbestimmung, Verführung und Gewalt. Die Figur der Emilia Galotti ist nicht von vorgestern, sie ist immer noch aktuell. Raimund Binder bringt das bürgerliche Trauerspiel Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing auf die Bühne. Am Wochenende hatte es bei enormem Zuschauerandrang Premiere im Schau-Spiel-Studio Oberberg.
Sogar zum Lehrstoff für das Zentralabitur gehört der Stoff des vor 235 Jahren uraufgeführten Werkes. Damals war es ein hochpolitisches Drama, welches die Willkürherrschaft des Adels der Moral des Bürgertums entgegen stellte. Heute wirft das Stück mehr die Frage nach Wertmaßstäben und Erziehung auf, die Freiheit und Kontrolle bedingen und dabei letztlich schuldig werden lassen.
Schnörkellos und direkt bringt Binder seine Protagonisten auf eine raumgreifende, nahezu leere Bühne. Nichts lenkt ab von den meisterhaften Dialogen und den durchweg guten Schauspielern. Der Zuschauer begreift den Raum als Zustand, in dem sich ein einziger Tag in unerbittlicher Bewegung zur Tragödie hin entwickelt. Der tödliche Ausgang erscheint unnütz und grausam. Doch Binders Inszenierung vermeidet nicht nur Gemetzel (Mord). Sie zeichnet zudem durch Paula Donner die Hauptperson als selbstständig entscheidende und am Ende handelnde Frau (Eigentod).
Verführung ist die wahre Gewalt, weiß Emilia. Verachtenswürdig erscheint somit auch des Prinzen von Gedanken der Käuflichkeit beherrschte Verliebtheit und sein alles umfassender Machtanspruch durch Michael Albrechts stimmige Darstellung. Gisbert Möller dagegen verkörpert den auf bürgerliche Moral pochenden Vater Odoardo, dessen Menschenverachtung er mit verächtlichem oder verbittertem Gesichtsausdruck herausarbeitet.
Christel Freymüller belebt hingebungsvoll die bürgerliche Mutter Claudia, Damiano von Erckert mimt den Grafen Appiani. Den Kammerherrn des Prinzen spielt Sepp Kliewe und ist dabei unglaublich überzeugend fies, intrigant, überheblich und gemeiner Strippenzieher im Hintergrund. Beeindruckend ist Viviane Bonfanti als Gräfin Orsina, ihrer ersten Rolle in Binders Ensemble. Mit einer unbändigen inneren Kraft und prägnantem Ausdruck in der Stimme verleiht sie der verlassenen Geliebten des Prinzen Klugheit und Verstand. (r)