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Andheri-HilfeDas Elend der Rattenfänger

Lesezeit 5 Minuten

Bonn – Diese Menschen gelten als so unrein, dass sie auf der untersten Stufe des indischen Kastensystems rangieren, sie sind die Unberührbaren der Unberührbaren. Die Gemeinschaft der Musahar im Bundesstaat Uttar Pradesh nahe der Grenze zu Nepal, vertrieben aus ihrem angestammten Lebensraum, dem Wald, darf nicht einmal als Tagelöhner auf Feldern arbeiten, weil sie die Ernte „verunreinigen“ würden. So graben sie auf abgeernteten Stoppelfeldern Rattenlöcher auf, töten die Tiere, um sie zu essen und nehmen die Kornvorräte der Ratten, um sich daraus Fladenbrote zu backen.

Elvira Greiner, die 1. Vorsitzende der Bonner Andheri-Hilfe, hörte auf einer Reise nach Indien zum ersten Mal von diesen Rattenfängern: „So viel Elend, so viel Hoffnungslosigkeit, solch eine Not habe ich noch nie gesehen“, erzählt sie im Gespräch mit der Rundschau. Viele Erwachsene der Musahar sind monatelang unterwegs, um unerkannt auf Baustellen ein paar Rupien für ihre Familien zu verdienen, während zu Hause die durch Unterernährung geschwächten Kinder an den Folgen der Japanischen Enzephalitis sterben, einer Viruskrankheit, die von Mücken übertragen wird. Manchmal kommen Kinderhändler und kaufen den Eltern gegen einen kleinen Geldbetrag die Mädchen ab: „Sie landen in einem Bordell in Neu Dehli oder Mumbai“, weiß Greiner.

Tausendfacher Tod im „Selbstmordgürtel“

Was tun? „Da gibt es keine einfache Lösung“, sagt die Vorsitzende der Bonner Organisation. „Es gibt nur eine Veränderung auf Dauer hin“, ergänzt Rosi Gollmann, die legendäre Gründerin der Andheri-Hilfe. Die will mit Partnern vor Ort die Armen über ihre Rechte aufklären, Frauen- und Kindergruppen aufbauen und die Musahar so befähigen, staatliche Hilfe zu nutzen. Greiner: „Mit 1500 Familien in 20 Dörfern fangen wir an.“ Dafür braucht Reeta Kaushik, die örtliche Partnerin der Bonner, eine Starthilfe von 20 000 Euro für ein Jahr.

Das Musahar-Projekt ist ein Beispiel für die Arbeit des 1967 gegründeten Vereins, der immer noch in einem kleinen Haus in der Mackestraße ansässig ist, mitten in einem Viertel, in dem nicht der Wohlstand wohnt. Diese Arbeit ist auf Nachhaltigkeit angelegt, örtliche Fachleute werden stets mit einbezogen.

Manches lässt sich langfristig planen, anderes kommt wie durch Zufall auf den Schreibtisch von Gollmann und Greiner. So berichtete der ARD-Weltspiegel im vergangenen Herbst über eine Selbstmordserie unter Baumwollbauern in Vanjari, einem Dorf in Zentralindien. Sie müssen jährlich für teures Geld genverändertes Saatgut kaufen, ohne gute Erträge zu bekommen, verschulden sich so hoch, dass sie keinen Ausweg mehr wissen und sich umbringen. „Selbstmordgürtel“ heißt diese Gegend, in der sich 200 000 Kleinbauern in den vergangenen zehn Jahren das Leben genommen haben.

Shashikala ist eine der Witwen. Ihr Mann hat sich an einem Baum erhängt, jetzt ist die Mutter von drei Kindern allein, hat kein Geld, kein Einkommen. „Wie sollen wir nur überleben?“, klagte Shashikala im Fernsehen.

Die Andheri-Hilfe Bonn ist eine unabhängige Organisation der Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist aus einer Privatinitiative, gegründet von der Religionslehrerin Rosi Gollmann, zunächst für notleidende Kinder in Andheri/Mumbai (Indien) entstanden und arbeitet seit 1967 als gemeinnütziger Verein. Zurzeit fördert sie 150 Projekte in Indien und Bangladesch. Die Arbeit wird von rund 20 000 privaten Spendern, Gruppen, Firmen und Stiftungen getragen. Hinzu kommen öffentliche Mittel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Seit 1974 existiert das Programm „Augenlicht retten in Bangladesch“, das mit mehr als 1,3 Millionen Operationen blinden Menschen zu neuem Augenlicht verhalf.

Vorsitzende der Organisation ist seit 2001 Elvira Greiner. Ehrenvorsitzende Rosi Gollmann (86) wurde im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Engagementpreis ausgezeichnet. Nach einem Benefizkonzert des Bonner MultiKultiChores in der Stiftskirche überreichte ihr Dirk-Olaf Stroessel, Geschäftsführer von JF. Carthaus Bonn, den Erlös des Abends, einen Scheck über 1500 Euro. Carthaus hatte das Konzert organisiert.

www.andheri-hilfe.de

Der Bericht erschütterte so viele Menschen, dass sie bei der ARD anfragten, wie sie der Witwe helfen könnten und gaben 41 000 Euro an Spenden. Das ARD-Studio in Neu-Delhi setzte sich mit der indischen Organisation WOTR in Verbindung, die seit Jahren mit den Bonnern kooperiert. Jetzt rollte die Hilfe für Shashikala und Hunderte andere Frauen in ähnlicher Situation richtig an. Die indische Regierung gibt den Betroffenen nach Greiners Angaben zwar eine Nothilfe von 100 000 Rupien (etwa 1100 Euro), um die Bankschulden zu begleichen, nicht aber für die Außenstände bei Wucherern, die für ihre Kredite 100 bis 150 Prozent Zinsen verlangten.

„Die finanzielle Abtragung der Schulden ist nur ein Baustein“, sagt Greiner. Die Witwen bräuchten zunächst psychologische Hilfe, um den Tod ihres Mannes zu verkraften, um sich bewusst zu machen, dass sie selbst einen Wert haben und sich so ein neues Leben gestalten zu können. Dank der Spenden aus Deutschland wurden für zunächst zehn Frauen und fünf Kinder Workshops organisiert, zehn bis 15 Witwen kamen dazu. Gollmann: „Das neue Selbstbewusstsein braucht Zeit, doch es ist möglich“.

Im nächsten Schritt wird Geld gezahlt in Form von Mikrokrediten, mit denen die Frauen kleine Unternehmen gründen können, um das Darlehen nach und nach zurückzuzahlen. Das hat auch mit Würde zu tun: Du kannst etwas und bist nicht auf Dauer auf fremde Hilfe angewiesen.

„Die Not trägt die Projekte an uns heran“, berichtet Rosi Gollmann von einem weiteren Vorhaben ihres Vereins. Es geht um den Ressourcenschutz auf dem Land, wo Äcker vertrocknen, weil der Grundwasserspiegel als Folge der Trockenheit und extensiver Bewirtschaftung sinkt und viele Bewohner deshalb fortziehen. Den verbliebenen Bauern wird beigebracht, Erdwälle auszuheben, um das von Bergen kommende Wasser zu kanalisieren, selbst ihr Saatgut heranzuziehen, um es nicht von mächtigen Konzernen kaufen zu müssen und schließlich die Feldfrüchte so anzubauen, dass die Ernte vielfältig ist. Diese Maßnahmen werden in der Dorfgemeinschaft besprochen. Die Leute kehren zurück, hören die Bonner von ihren einheimischen Partnern, denen sie das Geld für dieses Schutzprojekt geben.