Treck ins Ungewisse 1945Wie Felicitas Rinke die Vertreibung aus Schlesien erlebte

Aufbruch der Bewohner von Bischofswalde: Das Mädchen mit dem dunklen Rock, das sich ins Gesicht fasst, ist Felicitas Rinke.
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- Felicitas Rinke erinnert sich daran, wie sie im März 1945 ihre Heimat verlassen musste.
- Als die Rote Armee in Schlesien einrückte, war die heute 88-Jährige gerade 13 Jahre alt.
Felicitas Rinke ist 13, als die Welt ihrer Kindheit in Trümmer fällt. In Bischofswalde bei Neiße in Schlesien wird am 19. März 1945 das Fest des Heiligen Josef gefeiert. Viele Dorfbewohner haben sich in der Kirche versammelt. Mit dabei sind die Rinkes. Felicitas ist eins von vier Kindern. Die Familie besitzt einen Hof mit Wassermühle.
„Ich hatte eine schöne Kindheit mit viel Freiheit“, erzählt die heute 88-Jährige. Eine schöne Kindheit in Krieg und Diktatur, 200 Kilometer westlich von Auschwitz? Felicitas Rinke erinnert sich: „Vom Krieg haben wir anfangs kaum etwas mitbekommen. Bei uns war heile Welt.“
Offenbar sahen das nicht nur Kinder so. Lange habe Schlesien als „Reichsluftschutzkeller“ gegolten, erzählt Silke Findeisen aus dem Dokumentations- und Informationszentrum im „Haus Schlesien“ in Königs winter. Viele flohen sogar aus anderen Reichsteilen dorthin. Der Zusammenbruch der Front im Osten sei viel zu spät erkannt worden.Für die Familie Rinke endet die scheinbare Sicherheit an diesem 19. März 1945. Im Radio ist von Bombenangriffen die Rede. Die Front rückt immer näher. Die nationalsozialistische Kreisleitung gibt den Befehl, Bischofswalde zu räumen. „Die Stimmung war bedrückt“, erinnert sich Rinke. Pferdewagen und Fahrräder werden mit dem Nötigsten beladen. „Wir haben warme Kleidung, Decken, Kissen, Dokumente, Lebensmittel für uns und Futter für die Pferde eingepackt“, erzählt die Seniorin. Um 17 Uhr versammelt sich der Großteil der Einwohner auf der Dorfstraße.
Treck ins Ungewisse
Unter Leitung eines Treckführers zieht der Zug mit 182 Personen los. „Ab da waren wir unterwegs und wussten nicht, was uns erwartet“, erzählt Rinke. Um Mitternacht erreicht der Treck Alt Rothwasser. Das gehörte in der NS-Zeit zum schlesis chen Kreis Freiwaldau, liegt aber bereits im Sudetenland. Am nächsten Tag geht es weiter nach Setzdorf.
„In Setzdorf wollte keiner mehr weiter. Alle wollten abwarten und wieder nach Hause zurück“, erzählt Rinke und liest aus dem Tagebuch ihrer Vaters vor, der mehrere Male zurück nach Bischofswalde geht.
Als er am 29. März dort ankommt, ist er entsetzt über die Zustände. Er schreibt: „Es gab Bombeneinschläge, die Häuser waren zum Teil verdreckt und ausgeplündert, in der Mühle war alles Mehl weg.“ Erst am 29. Oktober wird er seine Familie wiedersehen.
Für die anderen geht es weiter. „Wir mussten weiterziehen, um den anderen Trecks Platz zu machen“, erzählt Rinke. Das Gelände ist uneben, die Wege sind steil, die Pferde erschöpft. Dennoch legt der Flüchtlingszug am Tag zwischen zehn und 28 Kilometer zurück. „Wir haben in Scheunen oder Kammern übernachtet auf Stroh, wir Kinder meistens auf de m Wagen.“„Für mich ist es bis heute erstaunlich, dass der Postweg so lange funktioniert hat und man nachverfolgen konnte, wo sich welcher Treck aufgehalten hat“, sagt Silke Findeisen. Die Ostertage verbringt Felcitas Rinke in einer Molkerei in Hermanitz, Landkreis Landskron. Am 3. April erreicht der Treck Politschka bei Zwittau. „Da haben wir nach langer Zeit unsere erste warme Mahlzeit erhalten, und die Pferde konnten in Ställen untergebracht werden. Die Pferde waren für uns wichtiger als wir selbst. Die haben schließlich all unser Hab und Gut gezogen“, sagt die Seniorin. Die Vorräte werden aufgestockt. 300 Gramm Brot und 100 Gramm Wurst ist die Tagesration pro Person.

Felicitas Rinke war 13 Jahre alt, als sie Flucht und Vertreibung erlebte.
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Dann teilt sich der Treck in sechs Gruppen auf. Am 22. April überquert Rinkes Gruppe die Moldau. Ein anderer Treck wird von einem Tiefflieger bombardiert. Zehn Pferde kommen dabei ums Leben. Der Vorfall macht den Ernst der Lage deutlich. Der Treckführer entscheidet, nur noch nachts weiterzulaufen. Die Flüchtlinge ziehen jetzt nicht mehr durchs damals noch weitgehend deutschsprachige Sudetenland, sondern durchqueren das von NS-Deutschland annektierte „Protektorat Böhmen und Mähren“, also mehrheitlich von Tschechen bewohntes Gebiet.
Fluchtziel Bayern
Rinke erinnert sich: „Wir wollten an die bayerische Grenze, obwohl Leute aus anderen Trecks gesagt haben, dass man da nicht weiterkommt. Aber wir wollten nicht bei den Tschechen bleiben.“ Tatsächlich erreicht der Flüchtlingszug Ende April Pfefferschlag. Von dort ist Oberösterreich nicht weit. Die Nationalsozialisten hatten den Ort Bayern zugeschlagen, heute ist er wieder tschechisch. „Heute denke ich oft: Wären wir doch einfach nach Österreich rübergegangen“, meint Rinke. Im nahe gelegenen Christianberg ist kein Weiterkommen. Die Dörfer sind voll mit Flüchtlingen. „Das war der erste Halt ohn e Möglichkeit, weiterzuziehen. Und dann hat es auch noch geschneit – zehn Zentimeter Neuschnee“, erzählt sie.
Am 5. Mai treffen die ersten Amerikaner auf den Treck. „Ich habe gefragt ‚Have your any keks for my little sister‘“, sagt Rinke und lacht. Ihr Bruder habe sie harsch zurechtgewiesen, die Amerikaner waren schließlich der Feind.In Wodnian bei Budweis, immer noch im Süden Böhmens, trifft der Treck auch auf russische Soldaten. Rinke erinnert sich an schlimme Erlebnisse. „Die haben alles gestohlen.“ Frauen werden in die Wälder gezerrt. Die Schreie und Schüsse hat sie noch heute im Ohr. Sie selbst versteckt sich mit anderen Kindern auf dem Pferdewagen. „Das war schrecklich.“

Felicitas Rinke
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Am 23. Mai bricht der Treck nach Neuhaus auf, ein Städtchen im Dreieck Böhmen–Mähren–Niederösterreich. Doch die Russen haben alles geplündert. Rinke erinnert sich: „Auf der Wiese lagen unsere Sachen, wir hat ten keine Pferde und Wagen mehr. Wir haben Kleider übereinander gezogen. Da lagen Schätze an der Straße, das kann man nicht beschreiben.“ Der Treck läuft weiter Richtung Linz. Auf einem Fleischerwagen werden die übrigen Sachen transportiert. Rinkes Vetter geht in die Deichsel, die anderen schieben von hinten an.
An einem Bahnsteig macht die Familie Halt. „Am liebsten wären wir in einen Zug gestiegen, der uns nach Hause bringt.“ Doch der Zug kommt nicht – stattdessen Tschechen mit der Waffe unter dem Arm.Acht Wochen lang halten sich die Flüchtlinge aus Bischofswalde schließlich im amerikanisch besetzten Oberösterreich auf. Dann, im Oktober, trennen sich die Wege. Rinke kommt nach Passau in ein Flüchtlingslager. „Wer eine Anlaufstelle hatte, kam schneller wieder aus den Lagern raus“, erzählt Silke Findeisen. Die anderen werden in Familien untergebracht. Die Menschen im Westen sind verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen. Sie müssen teilen, was sie zu Kriegszeiten selbst nicht haben.
Königswinter und die ferne Heimat
Rinkes Familie kommt in Deiningen bei Nördlingen beim Landdienst unter. „Die Bayern waren ganz andere Leute. Wir waren viel fortschrittlicher in der Landwirtschaft. Die haben noch mit der Sense gemäht.“
Felicitas Rinke geht in Deiningen zur Schule, wird Kindergärtnerin und zieht später nach Holzlar bei Bonn, wo sie von 1958 bis 1992 einen Kindergarten leitet. In Königswinter lernt sie „Haus Schlesien“ kennen. Seit 1978 werden dort Erinnerungen an Schlesien festgehalten. Silke Findeisen und ihr Team möchten ein Bewusstsein dafür entwickeln, was die Menschen damals erlebt haben. Findeisen: „Die Geschichten geben mir einen persönlichen Zugang zu den Menschen. Mir wird immer wieder bewusst, wie wichtig es ist zuzuhören.“
Ihre Heimat hat Felicitas Rinke nie v ergessen, ist mehrfach in Schlesien gewesen und hat Bischofswalde besucht, das heute Biskupów heißt. Heute ist sie mit den Lehrerinnen ihrer ehemaligen Schule in Kontakt und erzählt den Schülern von damals. „Für mich ist es wichtig darüber zu reden, was wir erlebt haben“, sagt sie.
Auf dem Friedhof in Bischofswalde steht noch heute das Grabmal ihrer Urgroßeltern. „Als ich das bei meinem Besuch gesehen habe, war die Welt für mich in Ordnung. Sie vertreten auch weiterhin unser Dasein in unserer Heimat.“
Flucht und Vertreibung
Auf der Konferenz von Teheran 1943 fassten die späteren Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, Großbritannien, die USA und die Sowjetunion, den Beschluss, den polnischen Staat wiederherzustellen, sein Gebiet aber nach Westen zu verschieben. Das wurde im Februar 1945 in Jalta bekräftigt.Für Schlesien stand das ganze Ausmaß aber erst im August 1945 fest, als in Potsdam die Grenzziehung an Oder und Lausitzer Neiße definiert wurde.
500.000 Menschen starben nach Berechnungen des Freiburger Historiker Rüdiger Overmans im Zuge von Flucht und Vertreibung. Ältere Angaben von bis zu 2,1 Millionen Toten sind überholt. Zwölf bis 14 Millionen Menschen mussten ihre Heimat in den deutschen Ostgebieten und im Sudetenland verlassen – dies hatten die Alliierten so festgelegt. Polen wieder um, die den von der Sowjetunion annektierten Osten ihres Landes verlassen mussten, wurden in den ehemaligen deutschen Ostgbieten angesiedelt.Bei der Massenflucht vor der Roten Armee aus Ostpreußen kam es zur Katastrophe, als das Kreuzfahrtschiff Wilhelm Gustloff mit über 10 000 Flüchtlingen an Bord von sowjetischen Torpedos getroffen wurde und sank. Über 9000 Menschen ertranken.Auf die „wilde Vertreibung“ in der Endphase des Krieges folgte ab 1946 die systematische Ausweisung der Deutschen. Das bedeutete für viele Schlesier, die nach Kriegsende in ihre Heimat zurückgekehrt waren, eine zweite Vertreibung. Trotzdem leben im heutigen Polen noch gut 300 000 Menschen, die sich der deutschen Minderheit zurechnen.Im „Haus Schlesien“ in Königswinter werden seit 1978 all Erinnerungen an die Heimat, die Flucht und die Vertrei bung festgehalten.