Wachkoma-PatientNicht mit dem Schicksal hadern

Familie Schilling vor ihrem Haus in Hüngsberg: (v.l.) Vater Kai-Uwe, Charlotta, Julius, Jonathan, Mutter Alexandra und Carl.
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Windhagen/Bonn – Die Idylle ist fast perfekt. Am Ende von Hüngsberg, mitten in der Natur, lebt Familie Schilling mit zwei Pferden, zwei Eseln, Geflügel, zwei Katzen, Ridgeback Sam und den Kindern Charlotta (10 Jahre), Jonathan (6) und Carl (2), die barfüßig durch den Garten toben. Mutter Alexandra und Vater Kai-Uwe betrachten amüsiert die ganze Schar und holen Julius (11 Jahre) in seinem Rollstuhl hinzu. Nach einem Unfall im August 2013 war ihr Sohn erst in künstliches Koma versetzt worden. Dann war er Wachkoma-Patient.
Der Bunte Kreis wurde vor zehn Jahren in Bonn gegründet und bietet Hilfe für schwerstkranke Kinder und ihre Familien. Er verfügt über ein interdisziplinäres Team aus Kinderkrankenschwestern, Sozialpädagogen, Psychologen und Kinderärzten.
Ziel des Bunten Kreis ist es, die Familien zu entlasten, sich um Geschwister des kranken Kindes zu kümmern und den Aufenthalt zu Hause für den kleinen Patienten zu regeln.
Kontakt: Bunter Kreis Rheinland; Adenauerallee 119; 53113 Bonn, Telefon (02 28) 28 733 290. (mmn)
Der Unfall passierte auf der Rückfahrt aus dem Italien-Urlaub, den Alexandra Schilling mit drei Freundinnen und insgesamt 14 Kindern verbracht hatte. Gegen halb neun legten sie eine Frühstückspause auf einem Rastplatz in der Nähe von Bologna ein. „Die Kinder schnappten sich ihre Brötchen und Julius tat das, was er schon immer am liebsten tat, er kletterte auf einen Baum“, erinnert sich Alexandra Schilling; Julius sei schon als Kleinkind überall hochgeklettert. Auf einmal gab es ein dumpfes Krachen. Der Ast, auf dem Julius saß, brach ab. Der Junge stürzte kopfüber auf den Asphalt. „Aua, aua, Mama, es tut so weh“, sagte er noch, bevor er bewusstlos wurde. Ein zufällig anwesender Polizist in Zivil sorgte für Krankenwagen und Rettungshubschrauber und den Transport ins Hospital von Bologna, wo Julius sofort operiert wurde.
Obwohl die Blutung schnell unter Kontrolle gebracht und der Hirndruck normalisiert werden konnte, erlitt Julius mehrere Schlaganfälle, die zu einem massiven Schaden an der linken Hirnhälfte führten und auch die rechte Seite beeinträchtigten. Alexandra Schilling hatte jedes Zeitgefühl verloren und war beeindruckt von der Herzlichkeit der Italiener. Kai-Uwe Schilling flog unverzüglich nach Bologna und unterstützte seine Frau bei der Betreuung von Julius auf der Intensivstation. „Die darf man sich aber nicht so vorstellen, wie sie hierzulande aussieht – dort waren es zehn Betten nebeneinander, die durch Vorhänge getrennt waren“, sagt Julius Vater. „Aber die Behandlung war bestens, wir wurden stündlich vom Chefarzt informiert, und um die Sprachbarriere zu überwinden, besorgten die Mitarbeiter dort einen Pizzabäcker, der in Deutschland gearbeitet hat und nun beim Übersetzen half.“
Nach fünf Tagen erfolgte der Rücktransport in die Bonner Kinderklinik. Bis Mitte September wurde Julius im künstlichen Koma beatmet. Hier kam es auch zum ersten Kontakt zum Bunten Kreis (siehe Infokasten), durch den die Familie Unterstützung erhielt. Neben der Vermittlung einer psychologischen Betreuung für Alexandra Schilling zur Aufarbeitung des Traumas gab es auch Unterstützung bei organisatorischen Dingen rund um den Haushalt.
Anfang Oktober war es dann so weit, dass Julius mit seinem Vater zur Reha nach Holthausen aufbrechen konnte. Zwar war die Prognose der Neurologen und Neurochirurgen niederschmetternd („Julius wird nie wieder kommunizieren können“), aber Professor Peter Bartmann gab ihnen die Hoffnung, dass sich vieles regenerieren könne. In der Zeit der Reha hatte sich die Familie einen Wohnwagen geliehen und verbrachte die Wochenenden gemeinsam darin. „Es war wichtig für Julius, dass mit dem Papa ein Elternteil bei ihm war“, sagt Alexandra Schilling, die da bereits wieder an der Grundschule in Windhagen als Lehrerin arbeitete. „Und wir sind ja in der glücklichen Lage, dass mein Mann Freiberufler ist.“
Seit Mitte Juni ist Julius nun wieder zu Hause. Und es bewahrheitet sich, dass er alles um sich herum wahrnimmt. Er kann gezielt seine Finger bewegen und „sagt“ ja, indem er seine Augen schließt. Er besucht die Schule für Körperbehinderte in Neuwied und erhält dort verschiedene Therapien. „Wenn er nach Hause kommt, ist er kaputt, aber zufrieden, denn er hat ja auch eineinhalb Stunden Fahrtzeit“, sagt seine Mutter.
Im August hatte der Bunte Kreis die gesamte Familie zum Taschenlampenkonzert eingeladen, bei dem die Gruppe Rumpelstil auftrat, die Julius an der Bühne treffen konnte. Ihr Lied „Ich bin der Kai und schon seit Mai bei der Polizei“ gehörte zu den Lieblingssongs des Elfjährigen. Es war deutlich zu merken, dass er es wiedererkannte.
Zwar lässt sich baulich am Haus nicht viel behindertengerecht verändern, aber ihr Auto hat sich Familie Schilling umgebaut. „Wir hoffen auf eine weitere positive Entwicklung und wissen, dass es keinen Sinn hat, mit seinem Schicksal zu hadern“, betonen die Eltern. „Und wir sind immer grundehrlich zu unseren Kindern gewesen, die während der ganzen Zeit unglaublich viel ausgehalten haben ohne zu murren.“