Bankkaufmann Andreas Kinast war beruflich nach Schwalmstadt-Waldniel gezogen. Aus Interesse hatte er sich der Geschichte einer dortigen ehemaligen Schule beschäftigt und stieß auf eine dunkle NS-Vergangenheit.
Buch von Andreas KinastWie ein Bankkaufmann die NS-Kindermorde in Waldniel aufdeckte

Blick auf das verwitterte Gebäude der ehemaligen NS-Anstalt in Waldniel-Schwalmtal. Eine Gedenkstätte befindet sich in unmittelbarer Nähe zu dem Komplex.
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Vor 20 Jahren wurde der Bankangestellte Andreas Kinast befördert und war überhaupt nicht begeistert. Zwar hatte er sich auf eine Position als Sparkassenfilialleiter beworben, er rechnete aber nicht damit, nach Waldniel versetzt zu werden. „Mein Arbeitsweg hatte sich dadurch mehr als verdoppelt, ich war nicht wirklich begeistert“, sagt er heute. Dass die Versetzung nach Waldniel, einem Ortsteil der Gemeinde Schwalmtal am Niederrhein, sein Leben weitaus stärker beeinflussen würde, als dass er nur einen längeren Arbeitsweg in Kauf nehmen müsste, ahnte er im Jahr 2002 noch nicht.
Irgendwann fiel ihm in der Nähe seines neuen Arbeitsorts ein großer, schon damals maroder Gebäudekomplex auf. „Ich bin ein Mensch, der sich für seine Umgebung interessiert und wollte wissen, was es damit auf sich hat.“ Er erkundigt sich bei Einwohnern nach dem Gelände, erfährt von den meisten, dass das die ehemalige „Kent School“ sei, eine Sekundarschule für die Kinder von stationierten britischen Militärs. „Gemunkelt wurde aber auch, dass der Bau eine dunkle Vergangenheit habe, irgendetwas aus der NS-Zeit“, erzählt der 57-Jährige, der heute eine Filiale in seiner Heimatstadt Kempen leitet.
Andreas Kinast, der sich seit seiner Kindheit für die Zeit des Nationalsozialismus interessiert, wird hellhörig. „Ich hatte das Buch von Ernst Klee ‚Euthanasie im NS-Staat‘ gelesen. Da war von einer Tötungsanstalt Waldniel bei Andernach die Rede“, erinnert er sich. Die Namensgleichheit erscheint ihm merkwürdig und er findet heraus, dass es ein Waldniel bei Andernach nicht gibt. Ein Fehler, den Klee aus einer Gerichtsakte übernommen hatte. Die Euthanasie-Anstalt samt einer „Kinderfachabteilung“ gab es, aber nicht in Rheinland-Pfalz, sondern im Rheinland. „Mir wurde klar: Das Ganze ist nicht irgendwo 150 Kilometer weit weg passiert, sondern hier, wo ich praktisch jeden Tag zur Arbeit hingehe.“
Das Buch zu den NS-Verbrechen in Waldniel existierte nicht
„Und dann wollte ich das Buch lesen, von dem ich dachte, dass es schon irgendjemand geschrieben hat, denn historische Dinge von dieser Tragweite sind ja im Normalfall irgendwo dokumentiert und erforscht.“
Das Buch existierte nicht. Er findet ein paar Aufsätze und ein Schülerprojekt zum Thema. „Tiefer ist niemand in die Materie eingestiegen“, erzählt Kinast heute. An diesem Punkt hätte der damalige Enddreißiger resigniert mit den Schultern zucken und aufhören können, sich weiter um das alte Sandsteingebäude und dessen Geschichte zu kümmern. Er macht das Gegenteil. Er beginnt zu recherchieren, liest Fußnoten, prüft Quellenangaben aus der Fachliteratur. Er durchforstet Archive von Kempen über Düsseldorf bis Wiesbaden, sichtet meterweise Akten.
„Es war gar nicht so einfach, ich wurde oft gefragt, von welchem Institut ich denn käme und welchen Forschungsauftrag ich hätte“, erinnert sich der Bänker. „Sich aus freien Stücken mit der Zeitgeschichte zu beschäftigen, scheint für manche Menschen jenseits ihrer Vorstellungskraft zu liegen.“ Er spürt Namen und Biografien der Täter auf, die in den anderthalb Jahren, in denen die Abteilung existierte, 99 Kinder zu Tode brachten. Er erfährt, dass der Anstaltsleiter Hermann Wesse faktische Todesurteile schrieb („das Kind ist nicht dressierfähig“), während seine Frau, ebenfalls Ärztin in der Abteilung, nur ein paar Räume entfernt ihr gemeinsames Kind zur Welt bringt. Kinast setzt akribisch und unaufgeregt Stück für Stück ein Mosaik des Schreckens zusammen. „Es hatte etwas von Detektivarbeit, eins passte ins andere und irgendwann ergaben sich vollständige Bilder.“
Insgesamt sieben Jahre wird sich Kinast neben Familie, Beruf und seiner Jazzband mit den erschütternden Details der Kindstötungen in Waldniel beschäftigen. Irgendwann wird er auf die Idee gebracht, aus seinen Rechercheergebnissen, die er bis dahin als aus privaten Interesse entstandene Sammlung von Informationen sieht, ein Buch zu machen.
Mittlerweile ist die vierte Auflage veröffentlicht
Das Buch, das er eigentlich nicht schreiben, sondern nur lesen wollte, erscheint im Jahr 2010 in erster Auflage, inzwischen liegt die vierte vor. Herausgegeben wird es vom Landschaftsverband Rheinland, der als Nachfolgeorganisation der „Rheinischen Provinzialanstalten Viersen-Süchteln“, zu der die Anstalt gehörte, in besonderer Verantwortung steht. Was er auf den gut 300 Seiten beschreibt, ist schwer zu ertragen, er berichtet detailliert vom Schicksal der Kinder und ihrer Familien. Zum Beispiel von Anneliese B., genannt „Ally“, einem Mädchen mit Down-Syndrom, geboren 1938.

Euthanisieopfer „Ally“ mit Mutter.
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Knapp ein Jahr später trat der Erlass in Kraft, der Ärzte und Hebammen verpflichtete, Kinder mit Behinderungen beim „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ zu melden. Ally wächst bis zu ihrem fünften Lebensjahr bei ihrer Familie in Düsseldorf auf, es gibt Fotos, auf denen sie und ihre Mutter glücklich in die Kamera blicken. 1943 wird das Kind zunächst in eine psychiatrische Klinik nach Bonn und wenige Tage später nach Waldniel gebracht. Kinast zeichnet anhand von Krankenakten und Briefen nach, dass Ally keinesfalls der bestmöglichen medizinischen Behandlung unterzogen wurde, wie es den Familien und in diesem Fall Allys besorgter Mutter vorgegaukelt wurde. „Sie wurde gezielt durch eine überdosierte Medikamentengabe getötet, wie so viele der Kinder und hat dort keine drei Wochen überlebt. Andere hat man schlicht verhungern und verwahrlosen lassen.“
Die Wut auf die Täter ist die ganze Zeit da gewesen und wenn ich bestimmte Stellen lese, werde ich wieder wütend.
Warum tut er sich eine jahrelange Beschäftigung mit einem so grauenvollen Thema an, wie hält man das aus? „Es hat eine Eigendynamik entwickelt, das Thema ist zu mir gekommen. Und klar, ich musste mich immer mal zwingen, einen sachlichen Abstand zu gewinnen. Die Wut auf die Täter ist die ganze Zeit da gewesen und wenn ich bestimmte Stellen lese, werde ich wieder wütend.“ Was ihn besonders umtreibt: Dass so viele Täter kaum oder nicht bestraft wurden, weil sie nach Kriegsende vor Gericht „alles abgestritten, gelogen und sich scheinheilig gegeben haben.“ Ein besonders krasser Fall ist für ihn der von Hans Aloys Schmitz, leitender Arzt der Bonner Klinik, der zahlreiche Kinder in den sicheren Tod geschickt hat. „1947 wurde er rehabilitiert und an gleicher Stelle wieder eingesetzt und hat dort bis zum Ruhestand als angesehener Mediziner gearbeitet.“
Hat Kinast inzwischen mit dem Thema abgeschlossen? Der Filialleiter winkt ab. „Nein, überhaupt nicht, als das Buch erschien dachte ich, es wird lokal ein bisschen Aufmerksamkeit geben und dann war es das.“ War es nicht. Es vergehe kein Quartal, ohne dass von irgendwoher eine Nachfrage zu dem Thema kommt oder Anfragen für Vorträge, was er nie ablehnt. „Es sollte wohl alles so sein“, resümiert Andreas Kinast.
Andreas Kinast: „Das Kind ist nicht abrichtfähig“, Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941-1943, Böhlau, 4. Auflage 2021
Gedenkstätte für 500 Euthanasieopfer
Die ehemalige Kent School ist heute in Privatbesitz. Überlegungen, sie zu einem Hotel oder anderweitig nutzbar zu machen, scheiterten bisher an zu hohen Investitionen für das stark verwitterte Gebäude. In unmittelbarer Nähe, auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof, befindet sich seit 2018 eine neu gestaltete Gedenkstätte für die insgesamt 500 Euthanasieopfer von Waldniel, in Auftrag gegeben vom LVR. Diese ist maßgeblich aufgrund der Recherchen von Andreas Kinast entstanden.