„Da muss sich was ändern“Mechernicher Eltern fordern Reformierung der Werkstattentgelte

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Kevin, Melanie und Thorsten Mitteldorf lächeln in die Kamera

Finden, dass Menschen mit Behinderung – wie ihr Sohn Kevin (M.) – in Werkstätten besser bezahlt werden müssten: Melanie und Thorsten Mitteldorf.

Der Nordeifelwerkstatt-Geschäftsführer Georg Richerzhagen erklärt, warum Werkstatt-Mitarbeitende in diesem Jahr weniger verdienen.

„Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Für Melanie Mitteldorf, ihren Mann Thorsten und Sohn Kevin ist das kein inhaltsleerer Kalenderspruch, sondern ein Lebenscredo.

Kämpfen gehört seit 21 Jahren zum Alltag der Harzheimer Familie. Erst ums Überleben von Kevin, der als Baby geschüttelt wurde und irreversible Hirnschäden erlitt. Dann um die gerechte Strafe des Täters, um optimale medizinische und therapeutische Versorgung für das Kind, um Genesung nach mehr als 30 Operationen. Schließlich um bestmögliche Inklusion in die Gesellschaft.

Ich habe hier Lagertätigkeiten gemacht und Saunen verpackt.
Kevin Mitteldorf, über die Arbeit in der Werkstatt

„In Harzheim sind wir sehr glücklich. Hier wird Kevin überall angenommen, jeder nimmt ihn hier, wie er ist“, sagt Melanie Mitteldorf. An der Wand im Flur hängen Urkunden. Kevin ist aktives Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und engagiert sich im örtlichen Karnevalsverein. „Wo er kann, ist er mit dabei und packt mit an“, sagt Vater Thorsten.

Familie Mitteldorf beklagt Ausbeutung behinderter Menschen in Werkstätten

Doch um reguläre Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden, reichen Kevins kognitive Fähigkeiten nicht aus. Nach dem Besuch einer Förderschule ging der Junge in die Nordeifelwerkstatt (NEW) Zingsheim. „Ich habe hier Lagertätigkeiten gemacht und Saunen verpackt“, erzählt Kevin. Dass er sich dabei mächtig ins Zeug gelegt habe, hätten die Betreuer in der NEW bestätigt, so die Eltern, die auch betonen, dass diese gute Arbeit leisten und immer ansprechbar seien.

Trotzdem: Melanie und Thorsten Mitteldorf beklagen Ausbeutung behinderter Menschen in Werkstätten – als ein strukturelles Problem, dessen Rahmenbedingungen durch entsprechende Gesetze geschaffen werden. Bei einer Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden hatte ihr Sohn 2022 ein höheres Entgelt in der Tasche als Anfang dieses Jahres, obwohl der staatliche Grundbetrag, den alle Werkstattmitarbeitenden erhalten, von 109 auf 126 Euro angehoben wurde.

NEW-Geschäftsführer weist Kritik zurück

Zu tun hat das mit dem sogenannten Steigerungsbetrag, der in der NEW zusätzlich gezahlt wird. „Und damit zahlt die NEW mehr als viele andere Werkstätten“, betont Georg Richerzhagen, Geschäftsführer der NEW Unternehmensgruppe. Die Kritik, dass Werkstatt-Mitarbeitende ausgebeutet werden, weist er entschieden zurück, begrüßt aber den derzeitigen politischen Willen, die Einkommenssituation nachhaltig zu verbessern und die Strukturen zu reformieren. „Es handelt sich bei einer Beschäftigung in einer Werkstatt nicht um Erwerbsarbeit, das Entgelt ist demnach auch kein Lohn“, erklärt Richerzhagen.

Werkstätten sind Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation und zur Erweiterung der Handlungskompetenzen. „Auch die Persönlichkeitsförderung ist wichtig: Daher bieten wir arbeitsbegleitende Maßnahmen während der Arbeitszeit an – Sport, Musik, Wanderungen, Kunst oder PC-Kurse.“

Doch wie kann es sein, dass Kevin, der zweifelsohne zu den leistungsstärkeren Mitarbeitern gehört, 2023 plötzlich weniger auf dem Konto hat als im Jahre zuvor? Dahinter steckt die Berechnung des Steigerungsbetrags, der die individuelle Arbeitsleistung zugrunde legt. Diese wird über einen Bewertungsbogen ermittelt, auf dem unter anderem für Arbeitsgeschwindigkeit, Fehlerfreiheit, Selbstständigkeit, Ausdauer und Anwesenheitstage Punkte verteilt werden.

Senkung des Punktwerts ist Folge der Pandemie

Kevins Gesamtpunktzahl stieg innerhalb eines Jahres zwar um zwei Punkte, jedoch wurde der Punktewert um 20 Cent auf 2,30 Euro gesenkt. „Das Ergebnis ist, dass Kevin im letzten Jahr noch 337,50 Euro verdient hat, Anfang dieses Jahres nur noch 289,80 Euro“, sagt Mutter Melanie Mitteldorf.

Die Senkung des Punktwerts erkläre sich aus der Notwendigkeit, die Rücklagen wieder aufzufüllen, die in den Corona-Jahren weggeschmolzen seien, sagt Georg Richerzhagen. Werkstätten seien grundsätzlich verpflichtet, wirtschaftlich zu arbeiten. 70 Prozent des Gewinns müssten als Entgelte an die Mitarbeitenden ausgezahlt werden. Der Rest wird – so will es die Gesetzgebung – als Rücklage für die Beschäftigten und für Modernisierungen verwendet. „Während der Corona-Zeit konnten die Werkstätten nicht wirtschaftlich arbeiten. Wir haben trotzdem bis zu 125 Prozent an die Mitarbeitenden ausgezahlt, um ihnen in der Krisensituation Stabilität zu geben“, sagt der Geschäftsführer. „Auch wir sind nicht vor wirtschaftlichen Veränderungen gefeit.“

Was nicht in die Kasse reinkommt, kann leider auch nicht aus der Kasse raus.
Georg Richerzhagen, NEW-Geschäftsführer

Hinzu komme, dass die Energiekosten um 400 Prozent gestiegen seien, womit die NEW bislang alleingelassen werden. Das alles habe zu der Entscheidung geführt, den Punktwert um 20 Cent zu senken. „In Absprache mit dem Werkstattrat“, betont Richerzhagen. „Was nicht in die Kasse reinkommt, kann leider auch nicht aus der Kasse raus.“

Dem sei übrigens auch geschuldet, dass man den Werkstattbeschäftigten kein Weihnachtsgeld gezahlt hat. „Das ist jedoch kein dauerhafter Zustand“, versichert Richerzhagen: „Wir streben an, diese freiwillige Leistung wieder zu zahlen.“ Die meisten Mitarbeitenden von Werkstätten verbringen ihr gesamtes Berufsleben dort. Das Ziel, die Menschen mit Behinderung so fit zu machen, dass sie auf dem ersten Arbeitsmarkt unterkommen, ist zwar Grundsatz, „gelingt aber nur bedingt und eher selten“, sagt Richerzhagen.

Berlin diskutiert über drastische Erhöhung der Ausgleichsabgabe

Bundesweit spricht man von einem Prozent, die den Sprung in eine reguläre Beschäftigung schaffen. Das wiederum hat natürlich auch damit zu tun, dass Firmen und öffentliche Einrichtungen nicht ausreichend bereit sind, Menschen mit Behinderung anzustellen. Auch ist das Angebot an einfacher Arbeit in den zurückliegenden Jahren immer kleiner geworden.

In Berlin diskutiert man deshalb, ob die Ausgleichsabgabe drastisch erhöht werden soll. Also jene Zahlung, die Unternehmen leisten müssen, wenn sie nicht ausreichend Menschen mit Behinderung einstellen. Richerzhagen zweifelt den Effekt an. Er würde sich eher wünschen, dass die Attraktivität zur Schaffung von Stellen für beeinträchtigte Menschen erhöht würde.

Immer wieder erlebe er, dass Unternehmen sich beispielsweise vor der Antragsflut fürchten, wenn es um die Einrichtung von berufsintegrierten Außenarbeitsplätzen (Biap) geht: Werkstattbeschäftigte mit entsprechender Kompetenz können in Fremdunternehmen tätig sein. Firma und Mitarbeiter werden bei der betrieblichen Eingliederung von NEW-Fachleuten begleitet und unterstützt. „Wir haben letztes Jahr weit über 100 dieser Biaps geschaffen“, so der Geschäftsführer.

„Eine Klatsche für Menschen wie unseren Sohn“

Auch Kevin hat den Werkstattalltag mittlerweile verlassen und arbeitet auf einem solchen berufsintegriertem Arbeitsplatz. Jeden Morgen bringt sein Vater ihn zum Bauhof der Stadt Mechernich, mit dem die NEW einen entsprechenden Kooperationsvertrag hat. Der 21-Jährige liebt die neue Aufgabe, die es ihm ermöglicht, dort zu arbeiten, wo andere auch arbeiten – in einem Betrieb des ersten Arbeitsmarktes: „Und ich mag es, an der frischen Luft zu sein und mitanpacken zu können.“

Auf Kevins Entgeltzettel stehen nunmehr rund 600 Euro, inklusive 126 Euro Grundbetrag. „Egal, was er macht, es wird nie annähernd soviel sein wie der Mindestlohn“, zeigt sich Vater Thorsten Mitteldorf zerknirscht. Und seine Frau fügt an: „Da muss sich was ändern – so, wie es jetzt ist, ist es eine Klatsche für Menschen wie unseren Sohn.“


Reformierung der Werkstattentgelte gefordert

„Das Entgeltsystem der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) befindet sich in mehr als nur einem Spannungsverhältnis“, heißt es seitens der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (Bag WfbM). „Auf der einen Seite sollen möglichst hohe Arbeitsergebnisse erzielt werden, um daraus hohe Arbeitsentgelte auszahlen zu können. Gleichzeitig sollen Werkstätten aber auch vielfältige Qualifizierungs- und Arbeitsmöglichkeiten sicherstellen.“

Auf der anderen Seite bewege sich das Entgeltsystem „zwischen den unterschiedlichen Polen des Solidaritäts- und Leistungsprinzips“, so die Bag WfbM. Die Bag WfbM setzt sich deshalb für eine „spürbare und nachhaltige Verbesserung der Einkommenssituation der Werkstattbeschäftigten ein“. Das Finanzierungssystem der Werkstattentgelte müsse reformiert werden, lautet die Forderung.

Beschäftigte in Werkstätten sind keine Arbeitnehmer, weshalb ihnen auch nicht der gesetzliche Mindestlohn zusteht. Die Bag WfbM zeigt in einer Modellrechnung auf, dass das Einkommen eines Werkstattbeschäftigten in Verbindung mit staatlicher Grundsicherung – die die meisten Mitarbeitenden erhalten – sich nicht viel von einer regulären Beschäftigung mit Mindestlohn unterscheidet. Bei der Altersrente (nach 45 Beitragsjahren) haben die WfbM-Beschäftigten nach dieser Rechnung sogar 389 Euro mehr, da die jährlichen Rentenpunkte höher ausfallen.

Kritiker sehen die Situation für die bundesweit rund 310 000 Beschäftigten in Werkstätten anders: „Eine selbstgewählte Teilhabe an der Gesellschaft und das Erarbeiten des Lebensunterhalts, wie in Artikel 27 UN-Behindertenrechtskonvention gefordert, ist nicht möglich.

Die Beschäftigten sind somit dauerhaft von Sozialleistungen abhängig“, heißt es bei „Job Inklusive“, einem Projekt der Behindertenrechtsorganisation Sozialhelden. (hn)

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