„Zum Sterben zu viel“Euskirchener kämpft gegen die Armut und wünscht sich gesellschaftliche Teilhabe

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Klaus Berg an der Tür zu seinem Zuhause, er schaut in die Kamera, hinter sich eine grüne Containerwand.

Seit einigen Jahren lebt Klaus Berg in einem Container auf einem Industriegelände.

Fehlentscheidungen führten ihn dahin, wo er heute ist. Klaus Berg kämpft gegen die Armut, möchte gerne gemeinnützig arbeiten.

Manchmal passiert es einfach. Dann rutschen Menschen plötzlich ab, fallen durch die schmalen Ritzen des Systems und finden sich an den Rändern der Gesellschaft wieder. Die Gründe sind vielfältig. Seelische und körperliche Erkrankung, Überschuldung, fatale Fehlentscheidungen oder per se ein schwieriger Start uns Leben.

Fragt man Klaus Berg, wie sein Lebensweg ihn in die Wohnungslosigkeit geführt hat, erhält man Antworten, aber nicht unbedingt jene, die man vielleicht erwarten würde. „Ich hatte ein gutes Zuhause, käme ich nochmal auf die Welt, ich würde mir dieselben Eltern wieder aussuchen“, sagt er beispielsweise. Oder: „Leider war ich ein schwieriges Kind, ich hab’ viel provoziert.“ Schulisch hätte er das Potenzial gehabt, mehr zu erreichen. Zwei Mal bleibt er sitzen, macht letztlich den Hauptschulabschluss. Danach lernt er Maurer, genau wie sein Vater.

Fehlentscheidungen führen auf die Straße

Gleichzeitig macht er auch den Lkw-Führerschein. Große Maschinen hätten ihn immer schon fasziniert, sagt er. Anstatt auf der Baustelle zu arbeiten, chauffiert er als Lkw-Fahrer einige Jahre ein „18-Meter-Baby“ durch die Lande.

Fehlentscheidungen habe er getroffen, ja. Aber wer bitte tut das nicht? Irgendwann sei er einfach abgehauen, ein paar Jahre im Ausland gewesen. Nach seiner Rückkehr habe er nicht mehr in das normale Leben zurückgefunden, sagt er. Er arbeitet für eine Zeitarbeitsfirma und verdient „zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel“. Die Psyche rebelliert, Klaus Berg verliert Arbeit und Wohnung und landet schließlich auf der Straße.

Container als Zuhause

„Als Obdachloser habe ich zum Glauben gefunden“, erzählt der mittlerweile 51-Jährige. In seinem Zuhause reihen sich in einem Regal unterschiedlichste Bibeln und religiöse Schriften aneinander. Sein Zuhause, das ist seit fünf Jahren ein kleiner Wohncontainer auf einem privaten Firmengelände in Euskirchen, in dem er sich eingerichtet hat. „Ich bin hier das Nachtgespenst“, sagt er im Scherz. Er passe auf, rufe die Polizei, wenn sich Verdächtige auf dem Gelände herumtreiben. „Dafür zahle ich keine Miete.“ Der Besitzer sei eine Art väterlicher Freund für ihn geworden, der ihm „auch mal den Kopf wäscht, wenn’s nötig ist“, ein Förderer und Forderer zugleich.

Klaus Berg bekommt eine kleine Erwerbsminderungsrente und hat damit etwas mehr Geld, als andere Menschen in vergleichbarer Lebenslage. „Für einen Wohnungslosen gehts mir richtig gut“, meint er und lässt den Blick durch den Container streifen. Berg sitzt auf seiner Schlafcouch, neben ihm zwei Kuscheltiere, die er augenzwinkernd als seine Freunde vorstellt.

Tagsüber sei er oft in der Stadt unterwegs. Auf seinem alten Fahrrad. Laufen fällt Klaus Berg schwer – aufgrund seines Übergewichts. Alkohol und Drogen, damit habe er nichts zu tun. Seine Sucht sei das Essen, gibt er zu.

Berg versucht günstig zu kaufen, wobei ihm – wie vielen anderen – die Preissteigerungen im Laufe des vergangenen Jahres sehr zu schaffen machen. „Selbst No-Name-Produkte sind jetzt viel teurer, oft unterscheiden sie sich nur noch um 20 Cent von den Markenprodukten.“ Donnerstags isst er regelmäßig in der Suppenkirche der evangelischen Kirchengemeinde zu Mittag.

Und die Tafel? Klaus Berg schüttelt den Kopf. Dafür aber hole er sich manchmal die weggeworfenen Reste aus Restaurant-Mülltonnen. „Das Essen von da ist manchmal sogar noch warm“, sagt er.

Ich habe lange gebraucht, ehe ich mir selber zugestehen konnte, etwas bewegen zu können
Klaus Berg

Regelmäßig geht der 51-Jährige in die Tagesstätte der Euskirchener Caritas. Dort ist er offiziell gemeldet und hat ein Postfach. „Ich bin so dankbar, dass es diese Anlaufstelle für Wohnungslose gibt“, sagt er. Die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter vor Ort seien alle mit ganzem Herzen dabei: „Die richtigen Leute am richtigen Ort“, befindet Berg. Draußen auf der Straße bekomme man manchmal mit, dass manche Mitmenschen Berührungsängste haben mit der Armut. „Ich würde mir wünschen, einfach ganz normal behandelt zu werden. Und anstatt angestarrt zu werden, sollte man mich lieber ansprechen – freundlich, auf Augenhöhe.“ Fragen weicht er nicht aus, er geht offensiv mit seiner Situation um. Im vergangenen November saß Klaus Berg sogar als Betroffener und Armutsexperte in einer Talkrunde, die die evangelische Gemeinde organisiert hatte. Politische Entscheidungsträger sollten den für sie abstrakten Begriff der Armut mit Leben füllen, dabei sei er gerne behilflich, meinte Berg damals.

Gesellschaftliche Teilhabe, so Klaus Berg, ist etwas, was er in seinem Leben vermisse. Einfach mal ins Kino oder ein Eis essen, wenn man Lust darauf habe. „Richtig diskriminierend wird es aber, wenn es ums Wählen geht“, so der 51-Jährige. Mit der postalischen Adresse bei der Caritas könne er zwar ein Auto anmelden oder einen Arbeitsvertrag unterschreiben, „eine Wahlbescheinigung bekomme ich aber nicht automatisch zugestellt“.

Dafür müsse er mit einer extra ausgestellten Bescheinigung der Wohnungslosenhilfe zum Bürgeramt der Stadt gehen, um dann dort den Wahlschein zu erhalten. Kaum einer in der Wohnungslosenszene würde diesen umständlichen Weg gehen – er schon: „Mir ist es wichtig, die Demokratie mit meiner Stimme zu unterstützen und als Bürger mitgestalten zu können.“

Fragt man Klaus Berg, wie er sich seine Zukunft ausmalt, denkt er kurz nach und antwortet mit einer Gegenfrage: „Darf ich träumen?“ Zunächst einmal wolle er mit ärztlicher Unterstützung einiges an Gewicht verlieren, um damit mobiler und wieder arbeitsfähig zu werden. Irgendwann will er raus aus seinem grünen Wohncontainer und in eine eigene Wohnung ziehen. „Und dann würde ich gerne ein gemeinnütziges Unternehmen gründen und anderen Menschen helfen. Ideen habe ich ganz viele.“ Reich wolle er gar nicht sein. Oder wenn, dann nur, um soziale Projekte, die er toll und sinnvoll findet, durchführen zu können.

Stolz auf Geleistetes

Dass er nicht nur redet, sondern auch macht, beweist Berg seit 2016 mit einer Weihnachtsfeier für Menschen, die an den Tagen nicht alleine sein wollen. Mit Unterstützung anderer Ehrenamtler und etlicher Sponsoren stellt er eine gut organisierte Feier auf die Beine (siehe auch „Weihnachtsfest“), die dankbar angenommen wird. Feinsäuberlich hat Berg jede Quittung, jede Notiz und jede Mail im Zusammenhang mit der Feier in einem Ordner abgeheftet. Der liegt wie ein Beweisstück vor ihm auf dem Tisch: „Ich bin stolz auf diese Veranstaltung“, sagt er. Und: „Ich habe lange gebraucht, ehe ich mir selber zugestehen konnte, etwas bewegen zu können.“

Noch liege ein weiter Weg vor ihm, sagt Berg. „Doch wenn ich all das, was ich mir erträume, irgendwann geschafft habe, bin ich anderen, die meinen, es geht nie mehr bergauf, vielleicht ja ein Vorbild. Das wäre schön.“


Wahre Experten

  • Einen traurigen Höchststand erreichte laut dem Paritätischen Armutsbericht die Bedürftigkeit in Deutschland 2021 mit einer Quote von 16,6 Prozent. 13,8 Millionen Menschen müssen derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. „Noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Corona-Pandemie“, sagt Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband.
  • In der Serie widmen wir uns den unterschiedlichen Gesichtern und Auswirkungen von Armut im Kreis Euskirchen. Dafür sprechen wir mit Sozialverbänden, Vereinen und Initiativen, vor allem aber mit Betroffenen. Denn sie sind die wahren Experten und können fernab von Statistiken, trockenen Gesetzestexten und politischen Statements über die Herausforderungen berichten, die Armut mit sich bringt. (hn)

Weihnachtsfest

  • Zum sechsten Mal stellte Klaus Berg mit seinem Team ein Weihnachtsfest für Menschen auf die Beine, die Heiligabend und am ersten Weihnachtstag nicht alleine, sondern in netter Gesellschaft verbringen möchten. Willkommen sei grundsätzlich jeder, häufig würden alleinstehende ältere Menschen der Einladung folgen.
  • Die Feier wird durch die Spenden Euskirchener Firmen, Privatpersonen und Vereine möglich gemacht. „Auch im vergangenen Jahr war die Stimmung bis tief in die Nacht wirklich ganz wunderbar“, erzählt Berg.
  • Wer das jährliche Fest unterstützen möchte, mit Geld, Geschenken oder mit Einsatz beim Auf- und Abbau, ist herzlich eingeladen, sich mit dem Team in Verbindung zu setzen. (hn)
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